Rabenflüstern (German Edition)
des Hains führen.
Etwas anderes bereitete ihm weit größere Sorgen. Der Kobold hatte ihm berichtet, es sei unabwendbar, von dem Pilz zu kosten, vor dem man kleine Kinder von jeher zu warnen pflegte. »Amantia muscarita, gemeinhin als Fliegenpilz bekannt«, hatte er gesagt. »Der Fährmann hält am diesseitigen Steg ausschließlich für die Scheidenden.« Auf die Frage, ob er ihm etwas davon geben könne, hatte der Kobold ihn verschmitzt angefunkelt und gemeint: »Keine Sorge, mein Sohn, der König hat sie dort in Hülle und Fülle vorgefunden.«
»Fertig?«, nuschelte Helmward.
Die Kriegskrähe kontrollierte noch einmal die Halterungen seiner Satteltaschen, beruhigte sich gewohnheitsgemäß durch einen Griff über die Schulter und saß auf.
»Aye.«
Zwei Wachen öffneten einen Flügel des Tores und die beiden machten sich auf, den Stein der Macht aus seinem jahrhundertelangen Schlaf zu wecken.
Die weiße Decke über Äckern, Wiesen und Feldern verlieh dem Land den Eindruck einer Eiswüste. Ein strenger Nordwind warf den Schnee zu Dünen auf und schränkte dadurch ihre Sicht ein. Zuweilen hatte Kraeh Mühe, seinen Führer, der ein harsches Tempo vorgab, nicht aus den Augen zu verlieren. Er achtete darauf, den Tieren nicht zu viel abzuverlangen, sie gleichzeitig aber stets so in Bewegung zu halten, dass sie keinen Kälteschock bekamen. Für die Reiter war es ungleich härter. Fröstelnd wechselten sie immerzu die Hand an den Zügeln, um die andere vom Handschuh zu befreien und an der nackten Haut am Bauch zu wärmen. Die ersten beiden Nächte konnten sie in Verschlägen verlassener Gehöfte verbringen, deren Hauptgebäude, vermutlich samt deren Bewohner, in dem Krieg gegen die Nordmänner dem Feuer zum Opfer gefallen waren.
Sie sprachen wenig, jeder hing seinen Tagträumen nach, um sich von der Kälte abzulenken. Der eng um den Hals geschlungene Wolfspelz Kraehs flatterte im Wind, Helmward hatte anhalten lassen; sein gespannter Bogen zielte auf eine Ansammlung von Büschen, hinter denen er eine Bewegung ausgemacht hatte, die dem Krieger verborgen geblieben war. Die Sehne surrte und ein roter Fleck entstand, als der Pfeil ihr Abendessen, einen in seinem grauen Fell gut getarnten Hasen, an den Boden nagelte.
Der Fährtensucher sprang ab, die Beute einzuholen, als Kraeh plötzlich das Gefühl überkam, beobachtet zu werden. Er blieb ruhig und erst später, als sie beide wieder im Sattel saßen, erzählte er dem anderen leise von seinem Verdacht. Hinter einem kleinen Hügel banden sie die Pferde fest und knieten sich lauernd auf den Boden. Sie mussten nicht lange warten, bis zwei Reiter um die Ecke kamen. Lidunggrimm schoss in Kraehs Hand und im selben Moment fuhr Helmwards Bogen hoch. Vor sich sahen sie zwei in Felle gekleidete Männer im Schnee. Einer von beiden hatte ebenfalls einen Bogen gespannt.
»Kraeh, wir sind es«, rief eine bekannte Stimme, bevor die Waffen das Reden übernehmen konnten.
Erleichtert stieß die Kriegskrähe die Klinge zurück in ihre Scheide. »Rhoderik, Henfir! Was habt ihr hier zu suchen?«
»Begrüßt man so sich sorgende Freunde?«, gab der alte Krieger grunzend zurück.
»Wir dachten, es könne nicht schaden, zu dritt deinen Weg zu sichern«, erläuterte der Jüngere, wobei er Helmward einen abschätzigen Blick zuwarf.
Kraeh war einverstanden, dass sie gemeinsam weiterritten. Ihre Sorge rührte ihn sogar ein wenig. Gewohnheitsgemäß war er davon ausgegangen, Rhoderik würde bei Heikhe bleiben, explizit hatte er aber nur Lou darum gebeten, wie ihm jetzt einfiel.
Der Fährtenleser sagte von nun ab überhaupt nichts mehr, wenn es sich vermeiden ließ, und da Rhoderik auch ein erfahrener Waldläufer war, gab es dazu auch kaum einen Anlass. Stumm trabte seine Mähre in einigem Abstand voraus, ihnen die Richtung zu weisen.
Die restlichen zwei Nächte fanden sie Unterschlupf unter überhängenden Felsen, die wie Monumente vergangener Epochen aus der sonst offenen Flur ragten. Unter ihren schützenden Dächern machten sie Feuer, brieten Fleisch und erhitzten Met, den Henfir mitgebracht hatte.
Wie vorausgesagt, erreichten sie am Ende des fünften Tages einen Waldrand. Nichts Ungewöhnliches ging von den in tiefen Winterschlaf verfallenen Bäumen aus, deren dünnere Äste von einer Eisschicht ummantelt im Wind bibberten. Dennoch weigerte sich der Einheimische strikt, auch nur einen Fuß hineinzusetzen. Selbst sein Pferd scheute und steckte damit
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