Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Rabenherz & Elsternseele

Rabenherz & Elsternseele

Titel: Rabenherz & Elsternseele Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martha Sophie Marcus
Vom Netzwerk:
glaubt.
    Zum Glück sind Heißluftballons nicht allzu hart.
    An diesem Tag trug uns die Luft zur Burg, wo Rudolf von Meutinger im Sommer seine zwielichtigen Falknerspielchen getrieben hatte. Inzwischen hatte er gekündigt und war weggezogen. Die kleine Greifvogelwarte wurde jetzt von einem Verein betrieben, der aus netten Leuten zu bestehen schien.
    Wir kreisten zweimal über der Burganlage, dann drehte Leander ab. Neugierig folgte ich ihm weiter, erst gebirgseinwärts und dann bergan. Allmählich spürte ich die Anstrengung. Wie schafften die Zugvögel bloß ihre ungeheuer weiten Reisen? Wahrscheinlich musste ich noch an meiner Flügelschlagtechnik feilen.
    Leander sah überhaupt nicht aus, als würde ihn der Flug anstrengen. Andererseits war er möglicherweise ja auch gar kein richtiger Vogel, sondern ein … Ja, was eigentlich?
    Seelenvogel.
    Keine Ahnung, woher das Wort plötzlich kam, doch es schien das richtige zu sein.
    Endlich ließ er sich auf dem toten Ast einer alten Eiche nieder und wartete, bis auch ich gelandet war. Dann schüttelte er das Gefieder und keckerte, als wolle er sich darüber lustig machen, dass ich so außer Atem war.
    Verärgert pickte ich nach seiner Klaue, woraufhin er sie einzog, auf einem Bein stehen blieb und erneut keckerte. Unverschämtes Vogelzebra. Beleidigt schüttelte ich mich ebenfalls und sah mich genauer um. Ob er mir hier etwas zeigen wollte?
    Die Bäume auf diesem Berggipfel waren allesamt alt. Ohne das Laubkleid fielen ihre knorrigen Äste besonders auf. Wunderbare Orte, um ein Nest zu bauen. Das fanden auch andere. In der Eiche neben unserer saß ein Eichelhäher in der Nähe seines Nestes und beobachtete uns. Eichelhäher waren so etwas wie Waldelstern. Sie sprachen zwar einen fremdartigen Dialekt, aber ich mochte sie. Allerdings war ich neidisch auf ihre schicken, blau-schwarz gemusterten Flügelfedern. Das blaugrüne Schillern meiner eigenen sah zwar edler aus, leuchtete aber nicht so prächtig. Beides zu kombinieren wäre ein Hit gewesen.
    Leander fand offenbar, dass ich genug verschnauft hatte. Er turnte durch das Geäst der Eiche bis zu einer Stelle, wo ihre Zweige schön dicht waren, und präsentierte mir ein Elsternnest: ein wunderschönes großes Bauwerk – kein Vergleich mit dem schäbigen Reisighaufen auf unserer Kastanie. Ganz klar, hier war ein Profi am Werk gewesen. Jedes Zweiglein steckte an der richtigen Stelle. Und daran, wie Leander mit stolzgeschwellter Brust neben dem Nest hockte, war unschwer zu erkennen, wer der Profibaumeister war.
    Gern wäre ich in dieses Prunknest hineingeschlüpft, um es auch von innen zu betrachten. Leander hatte jedoch nicht vor, mich einzuladen. Offenbar reichte es ihm, dass ich die Architektur von außen bewunderte.
    Anschließend hatte er andere Pläne mit mir. Aufgeregt nickte er und trippelte auf dem Ast, bis er sicher war, dass er meine volle Aufmerksamkeit besaß, dann zischte er los. Und natürlich folgte ich ihm brav.
    Sehr weit flogen wir dieses Mal nicht. Leander brachte mich zu dem gewaltigsten, höchsten Baum, den ich je gesehen hatte. Es war ein Nadelbaum mit üppigem Geäst, das nah über dem Boden begann. Die nadeligen Zweige waren so dicht, dass sie nicht sehr einladend wirkten. Dies war kein Baum, in dem ich gern landen wollte. Wir hatten ihn etwa auf Giraffenkopfhöhe angeflogen, und trotzdem war der Wipfel noch nicht zu erkennen.
    Leander schlug nicht den steilen geraden Weg nach oben ein, sondern schraubte sich in einer Spirale um die gigantische Tannenfichtenkiefer herum empor. Ich machte es ihm nach. Langsam wurde der Baum schlanker, sodass wir schließlich sehen konnten, wo er endete.
    Überraschenderweise war da keine hübsche Weihnachtsbaumspitze. Im Gegenteil: Es hatte eher den Anschein, als hätte man dem Baum an seiner Spitze ein weihnachtsbaumgroßes Stück abgesägt. Seine obersten Äste bildeten eine Art große Schüssel. Und mitten in dieser Schüssel befand sich ein atemberaubend riesiges Nest. Es war leer, doch an den losen Federn und dem ein oder anderen nicht allzu alten Kaninchenknochen konnte ich erkennen, dass es bewohnt war.
    Was zum Kuckuck führte Leander im Schilde? Mit einem leisen, ernsthaften »Schäckäck« umkreiste er das Nest, knarzte und schnarrte, als würde er mir etwas Wichtiges erzählen. Ganz wirr machte er mich. Ich musste mich setzen, damit mir nicht schwindlig wurde.
    Das allerdings missfiel Leander. Er schoss auf mich zu und bremste so kurz vor mir ab, dass ich

Weitere Kostenlose Bücher