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Rabenherz & Elsternseele

Rabenherz & Elsternseele

Titel: Rabenherz & Elsternseele Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martha Sophie Marcus
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die darauf wartete, von mir untersucht zu werden. Vor Begeisterung nickend und wippend stelzte ich auf den hübschen Mosaikbildern herum und pirschte mich an die Kekse an.
    Bevor ich den Schnabel danach ausstrecken konnte, schrak ich zusammen. Auf einmal lag etwas Böses in der Luft. Böse und gefährlich. Mein Elsterninstinkt ließ mich zu einem schwarzen Blitz werden. Ich war so schnell in der Luft, dass ein Menschenblick mir nicht hätte folgen können. Man könnte auch sagen: Ich war genauso schnell wie die Kugel, die hinter mir die Schale mit Keksen zerschmetterte. Der Knall war nicht laut, eher nur ein »Paffz, Klirr«. Aber mein kleines Elsternherz schlug trotzdem vor Schreck einen Purzelbaum.
    Auf der Terrasse am Haus stand ein Mann mit einem Gewehr. Bloß weg hier! Aus dem Augenwinkel sah ich noch, wie der Kerl wieder auf mich anlegte.
    Ich wollte aus seiner Sichtweite verschwinden, war aber verwirrt und wusste nicht, in welche Richtung ich fliegen sollte. Der Garten sah auf einmal ganz anders aus. Mir war, als wäre er von einer dichten Wolke aus Bosheit bedeckt, durch die ich nicht hindurchstoßen konnte.
    Zickzack flog ich, suchte ein Versteck, aber keins war gut genug. Paffz! Etwas streifte meine Schwanzfeder, brachte mich aus dem Gleichgewicht. Weg hier, weg hier! Nach oben. Aber da war die Wolke, wie eine Käseglocke. Mein Herz zerplatzte fast. Wohin? Paffz! Nicht getroffen. Oder doch? Ich bekam kaum noch Luft, streifte einen Ast, knickte eine Schwungfeder. Warum schaffte ich es nicht, diesem Verrückten davonzufliegen? Denk nach, Pia! Du bist mehr als ein Vogel. Was tun?
    Kurzentschlossen kehrte ich um und rauschte in wildem Zickzack-Kurs auf den Mann zu. Ich sah die Überraschung in seiner Miene, doch sie hielt ihn nicht davon ab, das neu geladene Gewehr wieder auf mich anzulegen. Mit hämmerndem Herzen gab ich Gas und flog in wilden Spiralen, bis er mit seinem blöden Gewehr im Kreis schwankte.
    Als ich an ihm vorbei war, riss ich das Ruder herum und sauste nur eine Haaresbreite von der Hauswand entfernt nach oben. Ich spürte sofort, dass ich über das Dach nicht entkommen konnte: Auch dort gab es die Käseglocke. Ich würde sterben, wenn ich sie berührte, das spürten meine Elsternsinne. Der Mann zielte wieder auf mich – und kein Baum in der Nähe! Jetzt hatte ich mich selbst ausgetrickst.
    Eine Polizeisirene jaulte auf, ganz nah.
    Der schießwütige Mistkerl nahm kurz das Gewehr herunter und lauschte.
    In diesem Moment tauchte wie aus dem Nichts ein Vogel auf. Leander! Er durchbrach die böse Wolke und kam zu mir, um mich abzuholen. Das Loch, das er in die Käseglocke gebrochen hatte, war fühlbar. Erleichtert schwang ich mich darauf zu, Leander dicht hinter mir. Paffz! Ich war schon im Freien, als der Mann abermals schoss. Es erwischte eine von meinen Schwungfedern, aber ich blieb flugfähig. Leander dagegen kam ins Trudeln.
    Ich würde jetzt gern sagen können, dass ich heldenhaft abbremste, um auf ihn zu warten und sicherzugehen, dass ihm nichts Ernstes passiert war. Die Wahrheit ist jedoch, dass mein Verstand völlig ausfiel. Schäckäck , dachte ich nur noch, wegwegweg. Bloß weg!
    Kopflos raste ich bis zum Stadtparksee. Erst dort beruhigte ich mich und blickte mich nach Leander um. Nur, um mit hoher Geschwindigkeit so hart gegen einen Baum zu prallen, dass mir für einen Augenblick Hören und Sehen verging.
    Als ich wieder zu mir kam, lag ich in der grünen Entengrütze des Sees, und von allen Seiten paddelten Gänse und Schwäne mit lang vorgereckten Hälsen auf mich zu, denen die Mordlust in den kleinen Augen funkelte.
    Ich wollte mich davonmachen, doch aus dem furchtbar nachgiebigen Wasser heraus den richtigen Schwung zum Abflug zu holen, bekam ich nicht hin. Dann traf mich der erste Schnabelhieb, und ich geriet mit dem Kopf unter Wasser. Flatternd und planschend kämpfte ich mich wieder nach oben. Eine wirbelnde Masse aus Flossenfüßen, Schnäbeln und Flügeln drückte mich zurück in die Tiefe. Das gemeine Geflügel wollte mich tatsächlich ertränken. Mir schoss durch den Kopf, dass mein Vater vielleicht genau auf diese Weise gestorben war. Mama fiel mir ein. Und Oma. Ich explodierte förmlich vor Wut. Von diesen bescheuerten Weihnachtsbraten würde ich mich doch nicht unterkriegen lassen!
    So schnell wie in diesem Augenblick hatte ich mich vorher noch nie verwandelt. Wasser und Geflügel platschten und spritzten in alle Richtungen, ich schwenkte die Arme und schrie die fiesen

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