Rabenherz & Elsternseele
Leander war ebenfalls mit seiner Beute verschwunden.
Gerade als Jori es zum ersten Mal geschafft hatte, langsam, aber fehlerfrei in ihre Menschengestalt zurückzuschlüpfen, ließ sich eine andere Elster in der Buche nieder. Sie fiel mir auf, weil sie sich für eine Elster ziemlich ungeschickt anstellte und nach der Landung kaum ihr Gleichgewicht fand. Mehr Zeit, sie zu betrachten, nahm ich mir nicht, denn Bubo und Jori beschlossen, dass sie für den ersten Tag genug geübt hatten.
Begeistert über ihren Erfolg wollten sie als Nächstes den Schlachtplan für den Kampf gegen die Vogelscheuche besprechen. Daher zogen wir uns an und setzten uns in Omas Küche. Gleich am kommenden Tag wollten wir gemeinsam zur Wiese marschieren, dem Holzgestell den Garaus machen und den kleinen Vogel freilassen. Gesetzt den Fall, dass wir genug Mut aufbrachten, so nah an das Ding heranzukommen.
Der Rübenkopf muss ab
W
ir fühlten uns wie die drei Musketiere plus D’Artagnan, als wir uns am Mittwochnachmittag auf unseren zweirädrigen Rössern auf den Weg machten. Bubo war so aufgekratzt, wie ich ihn noch nie erlebt hatte, und Jori strahlte eine heldenhafte Entschlossenheit aus. Ich ließ mich von beiden anstecken, war aber nicht so siegesgewiss wie sie. Strix war der Stillste von uns.
Morgens hatte es geregnet, doch inzwischen war es schwülwarm geworden, eigentlich zu warm für einen Herbsttag. Es fühlte sich an, als würde ein Sommergewitter heraufziehen.
Über der alten Obstwiese lag die gleiche Dunstglocke aus Bösartigkeit wie über dem Garten des verrückten Luftgewehrschützen. Ich konnte sie auch in meiner Menschengestalt deutlich spüren. Joris und Bubos Schritte wurden zögerlich, als wir uns einen Pfad durchs Gestrüpp bahnten. Sie nahmen die Bedrohung also auch wahr. Strix merkte uns an, dass etwas Unheimliches in der Luft lag.
Er nickte mir aufmunternd zu. »Heute lassen wir uns nicht so leicht erschrecken. Der Rübenkopf muss ab!«
Ich hätte am liebsten nach seiner Hand gegriffen, um weniger Angst zu haben. Jeder Schritt fiel mir schwer. Eine unsichtbare Macht schien mich in die andere Richtung ziehen zu wollen.
Wir erreichten die Stelle, an der ich beim letzten Mal auf Strix gewartet hatte. Dieses Mal blieb er ebenso fassungslos stehen wie ich. »Sie ist weg.«
»Das kann doch nicht wahr sein«, murmelte ich. Trotz meiner Angst war ich enttäuscht darüber, dass der Feind verschwunden war. Wenn man schon seinen ganzen Mut zusammennahm, dann war es blöd, ihn gar nicht zu brauchen.
»Und dafür die ganze Aufregung«, murrte Jori.
Nur Bubo blieb angespannt. Er riss seine Augen uhuhaft weit auf und neigte den Kopf. »Hört ihr das nicht? Da singt ein Gimpel. Ich glaube nicht, dass dieses Ding weg ist.«
Seit ich zum ersten Mal Elsterngestalt angenommen hatte, war ich zwar besser darin geworden, Vogelarten und ihre Stimmen zu unterscheiden, aber ohne Bubos Einwurf hätte ich den in der Ferne leise pfeifenden Gimpel nicht erkannt.
Strix lauschte und schüttelte dann den Kopf. »Ich höre nichts. Von wo kommt es?«
Bubo, Jori und ich zeigten gleichzeitig auf den Garten des Verrückten.
»Lasst uns bis zum Zaun gehen und nachsehen, ob die Vogelscheuche da ist«, schlug ich vor.
Offensichtlich wollten die anderen ihren Mut auch nicht ungenutzt wieder mit nach Hause nehmen. Keiner erhob Einwände.
Wenig später standen wir mit klopfenden Herzen am Zaun des Vogelhasser-Gartens und stellten fest, dass die Lücke in der Hecke durch eine fußballtorhohe Bretterwand verschlossen war. Es gab keine Möglichkeit, in den Garten zu spähen. Der Gimpelgesang war hier allerdings nicht mehr zu überhören.
Jori stöhnte genervt. »Ich hab echt genug von der Rumschleicherei. Ich will jetzt wissen, was das für ein Ding ist, von dem ihr da erzählt habt. Wenn deine Tricks wirklich etwas taugen, Pia, dann müsste ich es ja hinkriegen, mich zu verwandeln. Also fliege ich über die Hecke und untersuche den Garten mal.«
Mich überlief ein Schauder. »Ich weiß nicht, ob das eine gute Idee ist.«
Doch Jori war schon dabei sich auszuziehen. »Ist mir egal.«
Möglicherweise hatte sie eine Menge mehr Mut zusammengerafft als ich. Ich schluckte. »Na gut. Wenn du in Schwierigkeiten gerätst, schreist du, ja?«
Sie nickte noch, dann war sie nicht mehr ansprechbar, weil sie sich auf ihre Verwandlung konzentrierte. Fünf Minuten dauerte es, bis sie sich in den nächstgelegenen Obstbaum hinaufschwang und von dort aus ihren
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