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Rabenmond - Der magische Bund

Titel: Rabenmond - Der magische Bund Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jenny-Mai Nuyen
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Verräter.
    Einer hatte eine Narbe, die ihm schräg über das Gesicht ging, die Narbe eines Holzfällers. Der Vater.
    Einer war groß und hatte zärtliche Augen voller Kälte. Der Jaguar.
    Das Mädchen im Kreidekreis drehte sich von einem zum anderen, sah jeden an und konnte ihren Blicken nicht lange widerstehen.
    »Wieso hast du mich verraten?«, rief Mion, aber Saffa antwortete nicht. »Waren wir nicht Freunde? Du hast mich doch geliebt!« Stumm sah er sie an. Sie floh vor seinem leeren Blick und begegnete dem ihres Vaters.
    »Wieso hast du mich nicht gerettet? Du hättest mich doch retten können. Du hast es nicht mal versucht... du hast es nicht gewollt. Wieso hattest du mich nie lieb? Antworte doch!«
    Aber er starrte sie nur stumm an und verwehrte ihr eine Antwort, wie er ihr alles verwehrt hatte.
    Sie floh vor seinen Augen und fand die des Jaguars. »Wieso...« Sie wollte weiterfragen, aber sie konnte nicht. Er hatte ihr Dinge angetan, die unaussprechlich waren.
    Seine Augen, schön und grausam wie der Winter, schwammen in Hass. Er würde nicht blind über sie herfallen wie ein Raubtier. Ihn trieb kein Hunger. Er würde mit erschreckender Ruhe auf sie zuschreiten, ihren Kopf zurückschieben und sie mit grauen Himmelaugen töten.
    Mion schluchzte und drehte sich wieder im Kreis, und alle drei starrten sie an und verweigerten ihr doch das, worum sie sie am sehnlichsten bat.
    »Was muss ich tun? Wieso bin ich nie genug? Wieso liebt ihr mich nicht?«
    Sie drehte und drehte und drehte sich im Kreidekreis.
     
    »Der Fluss«, sagte der Junge. »Der Fluss wird uns fortbringen. Alles beginnt und endet mit ihm.«
    »Am Fluss hat es begonnen«, sagte das Mädchen. »Mit dem Fluss wird es enden. Und dann neu anfangen.«
    Und sie wusste, dass sie das Mädchen war, denn das Mädchen liebte.
     
    Unendlicher Frieden. Wacher Schlaf. Träumende Wirklichkeit. Schweben.
     
    Irgendwo war strahlendes, unbeflecktes Weiß, und dahinter, in einer anderen Welt, ein Mädchen, das ohnmächtig in einem Kreidekreis lag und noch nicht ins Jenseits gehörte.

Die Künstlerin
    L yrian fand kaum Schlaf. Lange vor Sonnenaufgang wälzte er sich im Bett und stand schließlich auf, um sich zu bekleiden. In dem steinernen Baderaum neben seinem Schlafzimmer zündete er eine Lampe an und trat vor den großen Spiegel. Erst jetzt fiel ihm auf, wie sehr er sich verändert hatte. Überrascht musterte er sein Gesicht: Seine Augen wirkten mandelförmiger, sein Kinn spitzer. Der Fuchs hatte ihm deutliche Spuren in die Züge gemalt. Auch seine Haare kamen ihm jetzt ein wenig rötlicher vor.
    Er musste grinsen. Wenn er sich statt des Fuchses nun ein anderes Tier ausgesucht hätte... einen Elch etwa...
    Er trat zurück und atmete tief ein. Er rief die Schwalbenflügel herbei, verwandelte sich in den Otter und den Fuchs und kombinierte eine Weile. Dann versuchte er, Züge seines Menschengesichts in die Tiergestalten einfließen zu lassen, aber ihm fehlten das Geschick und der Einfallsreichtum, mit dem andere Drachen sich ihre kunstvollen Gestalten zusammenstellten. Er seufzte. Was würde die Künstlerin von ihm, dem künftigen Kaiser, denken, wenn er nicht wie ein mächtiger Drache aussah, sondern wie ein blasser Junge mit Augenringen? Und schlecht sitzenden Haaren... An seinem Scheitel herumzupfend, verließ er den Baderaum, um zu frühstücken.
     
    Das Porträt sollte hoch oben in einem Turm entstehen. Durch die Bogenfenster konnte man die Zinnen des Palasts und die nördlichen Gebirge sehen. Ein kunstvoller Teppich war hergeschafft worden, von einer Marmorsäule hing ein dicker Samtvorhang und auf einem niedrigen Tisch lagen ein goldenes Schwert, ein Zepter und Schreibutensilien - Requisiten für das Gemälde.
    Nachdem Lyrian sich die Halle angesehen hatte, rief er die Schwalbe herbei und flog über die Gärten in Richtung Palastmauer. Es war ein nebliger Morgen und die Sonne funkelte kalt und scharf zwischen dunstigen Wolkenschleiern. Als er das Tor erreichte, durch das alle menschlichen Besucher kamen, ließ er sich auf der Mauer nieder, rief den Fuchs und wartete.
    Wagen kamen und fuhren fort. Gildenmitglieder betraten das Reich der Drachen mit Truhen, in denen Stoffe, Schmuck, Musikinstrumente und andere Güter ruhten; Lehrlinge folgten ehrfürchtig ihren Meistern, Diener trugen schwere Lasten hinter ihnen her. Die Sphinxe lagen in Löwengestalt in der Sonne und schlichen vor dem Tor auf und ab. Erst wenn sie mit jemandem sprechen mussten,

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