Rabenmond - Der magische Bund
Jenseits könne man die Dinge sehen, die nach dem Tod kamen. Oder die Dinge, für die man im Leben blind gewesen war.
»Ihn malen, den Rabenprinzen... den blinden Rabenprinzen«, murmelte Jagu. Mion nickte. Im Gegensatz zu ihr und Faunia wurde er bei Ritus nicht bewusstlos, dafür redete er konfus. Wie in jener Nacht, als sie ihn für betrunken gehalten hatte.
Er erhob sich wie eine Puppe an Fäden und schlurfte hinter ihr her. Sie gingen ins Atelier und Mion zündete die Kerzen an. Das Porträt des Prinzen stand auf der Staffel. Jagu hatte die Farbkatastrophen einigermaßen wiedergutgemacht, die Mion während des Porträtierens veranstaltet hatte.
»Also.« Sie schenkte sich mit wackeligen Händen Wasser in einen Kelch und trank. Noch immer fühlte sie sich ein wenig zittrig. »Er hat ein spitzes Gesicht.«
»Warte«, sagte Jagu leise. Er suchte ein Kohlestück aus der Unordnung, die auf dem Tisch herrschte, und stellte sich vor die Leinwand. »Beschreibe ihn genau.«
Sie erklärte, so gut sie konnte, welche Form seine Stirn hatte und wo ihm Federn gesprossen waren. Sie fand keine anderen Worte für seine Nase als »kurz, nein, länger als so … nicht gerade von der Stirn runter, hier tiefer. Wie ein Dreieck«. Im nächsten Moment lachten sie und Jagu atemlos über etwas, was sie noch im gleichen Atemzug vergaß. Alles war so absurd. Dass sie den Prinzen der Drachen porträtieren sollte und vor fünf Tagen zum ersten Mal einen Pinsel in der Hand gehalten hatte. Dass sie wieder Ritus spielte. Mit Jagu.
Schwer zu sagen, ob es sie freute oder entsetzte, dass er dieselbe Sucht hatte wie sie. Es änderte sich von Augenblick zu Augenblick. Jetzt gerade war sie unsagbar froh darüber.
Er hielt sie an den Schultern und stützte sich halb auf sie. Einen Moment später umarmten sie sich fest. Mion lächelte noch, als sie plötzlich erdrückende Schuldgefühle überkamen. Sie ekelte sich vor dem, was sie getan hatten.
»Die armen Schlangen«, flüsterte sie. »Die... die armen Schlangen! Verdammt, wir müssen aufhören.«
»Der arme Prinz«, murmelte er.
Sie schwiegen und hielten sich. Mion hatte interessante Gedanken, die gleich wieder zerrieselten wie Sand. Dann wurde Jagu immer schwerer auf ihren Schultern. Mion ging in die Knie. Lachend drückte sie ihn hoch und Jagu schlurfte zum Samtsessel. Er sank hinein und deckte sich gedankenverloren mit den darin liegenden Schleiern, Umhängen und Perlenketten zu.
Mion kicherte. »Siehst wunderschön aus.«
»Spiegelbild, begleitest mich, bist echter als mein Blut. Bist du fort, dann bin ich nicht und ist böse gleich wie gut.«
Dann war er eingeschlafen.
Mion erwachte in ihrem Bett, ohne sich erinnern zu können, wie sie letzte Nacht hergekommen war. Sie fühlte sich so erholt, als hätte sie vier Tage durchgeschlafen, was ihr schlechtes Gewissen umso schlimmer machte.
Sie stützte den Kopf in die Hände und blieb eine Weile so sitzen. Nachdem sie zurückgekommen und Jagu ihren Palastbesuch geschildert hatte, war Faunia im Atelier erschienen. Mit einer Selbstverständlichkeit, als hätten sie seit Jahren nichts anderes getan, waren sie in Jagus Zimmer gegangen und hatten Ritus gespielt. Dabei hatten sie kein Wort gewechselt.
Warum hatte sie es getan?
Was Mion wirklich beunruhigte, waren nicht ihre eigenen Gründe, sondern Jagus. Dass sie selbst schwach war, sich ihrer Vergangenheit nicht entledigen konnte, das war leichter hinzunehmen als Jagus Schwäche. Schließlich stammte er nicht aus den Ruinen, er war ein großer Maler. Mion wollte nicht sehen, wie er ein wehrloses Tier opferte. Gleichzeitig fühlte sie sich ihm verbundener denn je, wenn sie Ritus spielten. Weil sie dann ganz ehrlich waren, ihre Geheimnisse teilten.
Mion seufzte, stand auf und ging in Faunias Zimmer, um sich für den heutigen Palastbesuch vorzubereiten. Nachdem sie erst vorsichtig die Tür einen Spalt aufgeschoben hatte, merkte sie, dass Faunia nicht da war.
Sie öffnete ihren Schrank und suchte sich ein Gewand aus, dann ging sie ins Atelier. Jagu war bereits wach und arbeitete an dem Porträt. Pfeifenrauch verbarg sein mitgenommen wirkendes Gesicht. Mion erwähnte die letzte Nacht nicht. Auch er ließ sich nichts anmerken.
Sie betrachtete die Züge, die Jagu dem Prinzen gegeben hatte, und war erstaunt, wie perfekt er ihn getroffen hatte. Sie pfiff leise. »Ich habe ihn ja ganz schön gut beschrieben, was?«
Er grinste. »Ohne deine Beschreibung hätte ich natürlich nie wissen
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