Rabenmond - Der magische Bund
geschickt an, doch als Jagu ihre Hand ein paarmal führte, fühlte sie sich sicherer. Es machte Spaß. Wenn sie doch nur so begabt wäre wie Jagu! Oder Faunia...
Abends hörten sie draußen Schritte im Flur. Im nächsten Augenblick wurde ein Papier unter der Tür hindurchgeschoben. Jagu kam Mion zuvor, hob es auf, sah es eine Weile an und steckte es schließlich in einen großen Umschlag in einem Regal, wo ganze Stapel von Zeichnungen lagerten.
Mion verstand nicht, wie Faunia ihm die Bilder schenken konnte. Wenn er sie sitzen gelassen und Faunia zum Fest mitgenommen hätte, wäre sie wütend gewesen. Oder...? Wenn sie bedachte, dass Jagu ihr Leben aufs Spiel gesetzt hatte und sie dennoch hier in einem Raum mit ihm war und sich von ihm das Malen beibringen ließ... Bewusst schüttelte sie diese Gedanken ab.
An den folgenden Abenden glitt immer eine Zeichnung unter der Tür hindurch, manchmal sogar mehrere. Es waren düstere Kohlebilder, von Ungeheuern, die in Schatten lauerten, sich windenden Gestalten und nur halb erkennbaren Gesichtern. Es waren Bilder des Wahnsinns, dachte Mion, mit all der faszinierenden, schrecklichen Schönheit, die der Wahnsinn mit sich brachte.
Eines Nachts, als Jagu schon zu Bett gegangen war und Mion gerade die Kerzen ausblies, öffneten sich die Türflügel. In der Dunkelheit dauerte es einen Augenblick, ehe Mion Faunia erkannte. Sie trug ihren seidenen Hausmantel, das Haar ergoss sich ungekämmt über ihre Schultern. Mion wich instinktiv zurück, als sie näher kam, doch Faunia schien sie gar nicht zu bemerken. Lautlos schritt sie durch die bleichen Lichtvierecke, die der Mondschein durch die Fenster warf, direkt auf Jagus Zimmer zu.
Es brannte noch Licht bei ihm. Lampenschein schwappte ins Atelier, als Faunia die Tür aufschob, und Mion sah, wie er sich überrascht umdrehte.
Einen Moment stand sie reglos auf der Schwelle. Dann griff sie in die Tasche ihres Hausmantels und schloss die Tür hinter sich.
Mion lief auf die Tür zu, nicht sicher, ob sie sie aufreißen oder erst lauschen sollte. Drinnen war nichts zu hören. Nur Schritte. Dann erklang ein Rumpeln, als würden schwere Gegenstände verrückt.
Mion machte die Tür auf.
Jagu hatte einen Stapel Leinwände verschoben. Faunia stand in der Mitte des Raumes, ließ sich auf Hände und Knie sinken und machte eine weite Bewegung mit dem Arm … Ein kaum hörbares Geräusch erfüllte den Raum, ein Geräusch, das Mion bis ins Mark fuhr: das winzige, stockende, kratzende Geräusch von Kreide, die einen Kreis auf den Boden zieht.
»Was macht ihr?« Die Frage blieb Mion in der Kehle stecken. Natürlich wusste sie, was sie taten. Aber sie traute ihren Augen nicht.
Wie im Traum tapste sie auf Faunia zu. Sie hatte den Kreis fast fertig gezogen - es war ein großzügiger Kreis, gewiss zwei Meter im Durchmesser. Der Boden darunter wies alte, halb verwischte Kreidespuren auf. Geübt zeichnete Faunia die vier Runen in jede Himmelsrichtung.
Og Siah Gho Nyx
Sie hallten wie ein Lied in Mion nach, diese vier Runen, ein Lied aus ihrer Kindheit, ein Lied der Sehnsucht... wie lange, wie lange hatte sie schon in ihren Träumen den Klang der Runen gekostet, wie sehr hatte sie sich danach gesehnt!
»Geh lieber«, sagte Jagu leise, aber seine Worte ergaben gar keinen Sinn mehr.
»Ich will mitmachen«, flüsterte sie. Die Sehnsucht war stärker als das Entsetzen darüber, dass Jagu und Faunia Ritus spielten. Ach was, Mion hatte es doch die ganze Zeit vermutet, so abwegig es auch sein mochte - sie hatte die offensichtlichen Zeichen bloß als Einbildung abgetan. Dabei war es von Anfang an klar gewesen: Das Kreidestück, das sie in jener Nacht in Faunias Hand gesehen hatte - der Abend, an dem Faunia und Jagu hier im Zimmer gewesen und sich so seltsam verhalten hatten - der Stich in Faunias Ringfinger … Und nun sah Mion endlich wieder einen Kreidekreis, perfekt gezogen und einladend wie ein Bett aus Wolken, und sie hätte alles getan, alles, um hineinzusteigen.
Jagu gab nicht sein Einverständnis, aber er hielt Mion auch nicht davon ab. Mit erschreckender Ruhe öffnete er einen schwarzen Tonkrug und holte eine lebendige Schlange heraus, kaum so breit wie ein Finger, nicht länger als Mions Unterarm. Sein Gesicht war ausdruckslos, seine Lippen dünn wie Striche, als er die Schlange betrachtete. Seine Hände bebten vor Widerwille. Und Gier. Faunia wich zurück und richtete sich auf, als Jagu mit der Schlange in den Kreis trat.
Og - Siah - Gho -
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