Rabenmond - Der magische Bund
Knicks. »Wie Ihr wünscht, Euer Majestät.«
»Wie sieht es denn aus?«, fragte er und kam neugierig zu ihr. Lyrian betrachtete die Leinwand. Verwundert runzelte er die Stirn.
»Ähm.« Das Mädchen räusperte sich. »Ich habe mir gedacht... also...«
Sie hatte weder die Dekoration gemalt noch hatte sie Lyrian so eingefangen, wie er posiert hatte. Stattdessen stand er andersherum und hatte einen Arm gebieterisch vor sich ausgestreckt, den anderen in die Seite gestützt. Auch seine Kleider waren völlig anders, in einheitlichem Blau gehalten. Sein Gesicht war ein weißer Fleck.
Was ihn aber am meisten überraschte, waren die mächtigen Schwalbenflügel, die ihn umrahmten.
»Ich... die Fantasie ist mit mir durchgegangen«, murmelte das Mädchen. Lyrian spürte das erste Mal seit langer Zeit, dass er lachen musste.
»Wie bist du darauf gekommen?«
»... Ich fand... Ihr saht eher so... aus.«
»So siehst du mich?«
Zögerlich nickte sie.
»Na schön. Es gefällt mir. Nächstes Mal sag Bescheid, wenn die Fantasie mit dir durchgeht, dann setze ich mich nämlich hin.«
Irrte er sich oder huschte ein Lächeln über ihr Gesicht? Heftiger denn je wollte er die Wahrheit aussprechen, wollte sie zur Rede stellen, sie war es doch - aber er brachte kein Wort hervor.
Er trat einen Schritt zurück und murmelte: »Du darfst gehen.«
Als er Baltibb an diesem Nachmittag traf, konnte er kaum stillhalten. Er musste durch das wuchernde Unterholz stapfen und sich an den Ästen der Bäume hochziehen und sich in den Fuchs und den Otter verwandeln und als Schwalbe herumflattern. Baltibb erduldete seine Unruhe, das schwere Buch auf dem Schoß, das er ihr aus einer der Bibliotheken gebracht hatte, und las halblaut vor. Lyrian war erstaunt, wie schnell sie lernte. Was er einmal erklärte, behielt sie im Kopf.
»Lyrian...« Baltibb senkte verzweifelt das Buch, als er anfing, Flöte zu spielen. Sofort steckte er die Flöte wieder ein - er hatte gar nicht gemerkt, was er tat.
»Entschuldige, lies weiter. Ich habe… ach, weißt du, woran ich schon die ganze Zeit denken muss?«
Baltibb schlug das Buch zu.
»Ich habe sie doch heute gesehen. Faunia.«
Ihr Gesicht blieb ausdruckslos.
»Ich weiß immer noch nicht, ob sie es ist. Entweder sie ist es oder...« Er seufzte. »Oder ich hatte eine Vision von ihr, als ich erschossen wurde. Ich weiß nicht, was mehr zu bedeuten hätte.«
Baltibb rutschte von der alten Mauer und ballte die Fäuste. »Ihr solltet die Sphinxe auf sie ansetzen! So lässt sich feststellen, ob sie die Attentäterin ist oder nur ein Hirngespinst.«
Er ging gar nicht darauf ein. Baltibb verstand nicht, dass er kein Interesse daran hatte, seine Mörderin zu bestrafen.
»Weißt du was?«, murmelte er. »Sie hat mich so gemalt, wie ich in ihren Augen war. Ein Mensch, der seinen eigenen Gedanken folgt, ja der frei entscheidet... und dabei etwas Schönes macht, kein Chaos, sondern Kunst.« Er zog sich an einer Buche hoch und setzte sich auf einen breiten Ast. Die Rinde war noch warm von der Sonne. Plötzlich musste er an früher denken, an Tage, als er und Baltibb nichts anderes gemacht hatten, als auf Bäume zu klettern und Laubhöhlen zu bauen. Die träge Langeweile, die hinter allen Spielen lauerte, das taube Gefühl von Frieden... Vogelgesang und Grillenzirpen, der Duft von Wasserlilien und Moos - Rehe am schattigen Flussufer und die Hosentaschen voller klebriger wilder Erdbeeren …
Er fühlte sich all dem so nah. Und dabei wusste er, dass die Erinnerung nur ein letztes Aufleuchten war, weil es nun endgültig hinter ihm lag. Die Sommer versanken vor seinen Augen im Treibsand der Vergangenheit. Dieses Jahr würde alles anders sein.
Mit anderen Augen
M it einem Luftschnappen richtete Mion sich auf. Ganz allmählich spürte sie ihren Körper wieder, als sickerte die Wirklichkeit zurück in ihre Gedanken. Der Geschmack der Visionen überlagerte alle Sinne, ein klebriger schwarzer Sirup.
Faunia lag bewusstlos neben ihr im Kreidekreis. Jagu saß versunken an ihrer Seite, sein Kopf hing schwer und seine Augen waren nur halb geöffnet.
»Jagu.« Ihre Stimme war rau. Sie versuchte zu schlucken, aber ihr Mund war zu trocken. Mit wackeligen Beinen stand sie auf und trat aus dem Kreis. Hinter ihren Augen blieb der wabernde Schleier des Schwebens. »Wir müssen ihn malen.«
Blitzartig durchschoss sie die Vision, die sie wieder gehabt hatte... der Fluss... Augen, schön und grausam wie der Winter... Es hieß, im
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