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Rabenmond - Der magische Bund

Titel: Rabenmond - Der magische Bund Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jenny-Mai Nuyen
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Nyx.
    Hatte Jagu die Runenworte geflüstert, war es Mion gewesen, oder alle gemeinsam? Hatte überhaupt jemand gesprochen? Die magischen Silben vibrierten in der Luft, die Schatten hauchten sie, die Flamme zischte sie. Jagu hielt einen schlanken Dolch in der Hand, an der Spitze so scharf und dünn wie eine Nadel. Mion hoffte und fürchtete zugleich, dass er es tun würde.
    Og - Siah - Gho - Nyx.
    Und Jagu hob die Schlange, die sich träge um seine Hand wand, und den Dolch -
    Og - Siah - Gho - Nyx -
    Und er schlitzte die Schlange von links nach rechts auf.
     
    Das Elend, die Scham, die Bosheit, alles wühlte in Mion auf. Sie ließ die Gefühle zu und genoss sie vollkommen gewissenlos. Jagu hielt das Tier vor Faunia. Sie beugte sich darüber und legte die Lippen an die Wunde, die den ganzen kleinen Leib teilte. Alles ging rasch. Nach Faunia war Mion an der Reihe. Sie neigte den Kopf und fühlte die zitternde Hitze des Lebens, das dem Tod erliegt. Ihr Mund berührte die glatte Haut. Ihr Magen verkrampfte sich, als sie das Blut schluckte. Doch nicht das Blut brachte die Übelkeit. Es war das aufgesaugte Leben, das sich in ihr wand und krümmte.
    Jagu beuge sich über die sterbende Schlange, und sie war tot, kaum dass seine Lippen sich von ihr lösten.
    Mit einem leisen Keuchen ließ er den Kopf zurücksinken. Das tote Tier glitt ihm aus den Fingern und blieb im Kreidekreis liegen.
    Benebelt gingen sie die Schritte.
    Dreiundzwanzig Schritte musste man rückwärts um den Kreis gehen. Faunia schwebte sie in ihrem langen Mantel entlang, die Arme ausgestreckt, den Kopf rotierend wie in einem rätselhaften Tanz. Mion setzte einen Fuß hinter den anderen, die Augen halb geschlossen. Das geschluckte Blut glühte in ihrem Hals, nein in ihrem Herzen. Der Geist der toten Schlange verbrannte ihr Inneres, denn er war gefangen, solange sie die Schritte um die Runen ging, und sein Zorn vermählte sich mit all dem Hass und aller Liebe, die sie in sich trug.
    Og Siah Gho Nyx
    Nun war sie sich fast sicher, dass sie die Runenworte murmelte, und auch Faunia sang sie leise vor sich hin, und Jagu flüsterte sie, und ihre Stimmen einten sich mit dem Zischen der Kerze und dem Hauchen der Schatten zu einem fieberhaften Chor.
    Sie sanken auf die Knie, als die dreiundzwanzig Schritte getan waren, blickten auf den Tierkadaver hinab, der im Takt ihrer Herzen pulsierte. Faunia hielt den Dolch in der rechten Hand. Über der toten Schlange stach sie sich in den linken Ringfinger, bis ein Dutzend Blutstropfen hervorquollen und sich mit dem Blut der Schlange mischten. Mion war als Nächste dran. In den Ruinen hatten sie meistens Käfer und Insekten benutzt, deren Blut man nicht mit eigenem bezahlte, sondern die man ganz hinunterschluckte und nach den Schritten auswürgte. Aber sie fürchtete sich nicht, in ihren Finger zu stechen. Der Atem der Schlange wollte aus ihr heraus, er musste, er würde einen Weg finden... Schon tröpfelte ihr Blut aus dem Finger und landete in der dunklen Lache unter dem Schlangenleib. Wortlos gab sie den Dolch an Jagu weiter und nun zerrann das letzte bisschen Wirklichkeit.
    Mion schwebte. Sie fühlte nicht mehr das Gewicht ihres Körpers. Sie fühlte gar nichts. Existierte nicht mehr, war nur noch ein Gedanke.
    Schwebte durch unendliches, unbeschreibliches Weiß, vom Atem der Schlange ins Jenseits getragen. Irgendwo in der Ferne sank ihr Körper kraftlos im Kreidekreis zusammen.
    Dann öffnete sich das Weiß, wie es sich - ja, eine ferne Erinnerung war da - schon oft geöffnet hatte, und nun kamen die Bilder des Todes. Die Spiegel, in die nur die Sterbenden sehen konnten. Und sie sah …
     
    Sie sah ein Boot auf einem winterlichen Fluss fahren und ein Junge saß darin und hielt ein Mädchen in den Armen. Die ganze Welt war weiß vor Schnee. Nur das Blut, das über die Stirn des Mädchens kroch, leuchtete rot. Eiskrusten knarzten am Ufer. Lautlos fuhr das Boot mit der leichten Strömung dahin. Bäume, kahl und dürr, beugten sich über ihre Spiegelbilder im Wasser, die das Boot mit Silberfäden zerschnitt. Der Junge hielt das Mädchen fester.
    Und sie wusste, dass sie das Mädchen war.
     
    »Jetzt sind wir gestorben.«
    Der Junge hielt sie in den Armen und das Blut kroch kalt über ihr entstelltes Gesicht.
     
    Sie sah ein Mädchen in einem weißen Kreis stehen. Drei Gestalten umzingelten sie.
    Einer hatte ein rundes, liebenswertes Gesicht und, wo das Herz sein sollte, ein Loch, das die Armut hineingefressen hatte. Der

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