Rabenmond - Der magische Bund
entsprechend.«
Lyrian gehorchte. Er war nie ein herausragender Schüler gewesen, weder in Theorie der Gestaltenwandlung noch Menschenlehre oder Regierungsgeschick. Wie es aussah, würde er auch in praktischer Verwandlung nicht glänzen. Doch während er die anderen Lehren mit pflichtgemäßer Gleichgültigkeit aufgenommen hatte, lag ihm nicht das Geringste daran, die Kampfkunst zu erlernen. Ob er ein mächtiger Drache wurde oder ob Accalaion an ihm verzweifelte, war ihm egal.
Trotzdem folgte er dem Befehl seines Lehrers und rief den Korpus der Schwalbe auf. Dabei konzentrierte er sich ausschließlich auf die Flügel.
Er spürte das kühle, schwindelerregende Kribbeln in den Schulterblättern, an das er sich schon fast gewöhnt hatte. In irgendeinem Buch hatte er einmal gelesen, Wechsel werden möglicherweise von einem unangenehmen Prickeln oder Stechen begleitet, das sogar zu Ohnmacht führen konnte, wenn unerfahrene Drachen ihr Können überschätzten. Damals hatte das Ganze beängstigend und faszinierend geklungen, und Lyrian hatte inständig gehofft, dass er sich wenigstens hier als talentiert genug erweisen würde, um den Erwartungen der Kaiserin und seinem Titel gerecht zu werden.
Sein Lehrer nickte gefällig, als der Fuchs Schwalbenflügel bekam. Dann hob Accalaion die Hände und bedeutete ihm, sie wachsen zu lassen. Lyrian rief alle drei Schwalbenkorpusse auf, bis seine Flügel eine mehr als stolze Länge betrugen. Accalaion schien zufrieden. Sein Lächeln war breit und emotionslos, so wie immer.
Korpus mein. Lyrian glitt vom Tisch, ließ sich in den Stuhl sinken und stützte seufzend den Kopf in die Hände, ohne seinen Lehrer anzusehen. Accalaion ließ sich neben ihm nieder, schlug die Beine übereinander und faltete die Hände.
»Bitte sagt sieben Weisheiten auf, die in der Deklaration des Kaisertums aufgezählt werden.«
»Wer nicht sichtbar ist, der sieht. Wer nicht Teil des Chaos ist, erkennt das Muster. Verstand ist Gerechtigkeit. Gefühl ist Ungerechtigkeit...« Er schloss kurz die Augen und versuchte, sich an die Formulierung von drei anderen Weisheiten zu erinnern. »Die zerstörerischste Gewalt auf Erden, die Menschenliebe, ist Ursache für Krieg, Elend und Chaos. Drachen müssen die Welt vor den Auswirkungen der Liebe schützen; Drachen müssen die Menschen vor den Verführungen der Welt schützen.«
Accalaion tippte die Fingerspitzen aneinander. »Wollt Ihr... über das Ritual sprechen, Hoheit?«
Lyrian hätte sich gerne der Illusion hingegeben, dass der Lehrer aus echtem Interesse fragte. Aber er wusste, dass Accalaion nur seine Pflicht erfüllte. Alle erfüllten sie nur ihre Pflicht.
»Beim ersten Mal kann das Ritual... durchaus heftige Reaktionen hervorrufen«, versuchte Accalaion es weiter. »Lasst Euch davon nicht aus der Fassung bringen, Majestät. Alles hat seine Richtigkeit. Sonst würden wir es ja nicht tun, nicht wahr?« Er lachte blechern und verstummte, als Lyrian sich nicht regte. Mühevoll räusperte sich Accalaion. »Nun, wollt Ihr Eure Eindrücke mit mir teilen?«
»Nein.« Lyrian lehnte den Kopf zurück. Heuchlern musste er nicht erklären, wie sich Heuchelei anfühlte.
Er war immer gehorsam gewesen. Was er nicht hätte sehen sollen, hatte er gewissenhaft verdrängt. Jetzt, wo ihm gewaltsam die Augen geöffnet worden waren, kehrten die Erinnerungen zurück wie Bilder aus Träumen, die er tief in seinem Unterbewusstsein begraben hatte.
Als Accalaion ihm zum ersten Mal Unterricht in der Bibliothek gegeben hatte, war Lyrian fünf gewesen. Sehr deutlich sah er Accalaions langes Gesicht mit der gebogenen Nase und den spitzen Augenbrauen vor sich - seitdem schien er sich kaum verändert zu haben -, und er wusste noch, was seine ersten Worte gewesen waren.
»Mein Prinz«, hatte Accalaion mit einem lauernden, gespannten Lächeln angehoben, »Ihr wisst, Ihr seid ein Drache, nicht wahr?«
Lyrian nickte, obwohl die merkwürdige Frage ihn verdutzte. Dass man wusste, wer man war, schien ihm so selbstverständlich wie das Gespür für Hunger und Müdigkeit.
»Dann könnt Ihr mir also sagen, was ein Drache ist, mein Prinz?«
Lyrian wurde nervös. Obwohl er wusste, dass er ein Drache war, konnte er nicht sagen, was das hieß. Der Gedanke war ihm noch nie gekommen und er war beunruhigend.
Accalaion nickte, als hätte er Lyrians Reaktion erwartet. Auch die Kaiserin schien immer zu wissen, wie er sich fühlen würde, bevor Lyrian es selbst wusste, und er blickte ehrfürchtig zu
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