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Rabenmond - Der magische Bund

Titel: Rabenmond - Der magische Bund Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jenny-Mai Nuyen
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aber niemand war zu sehen. Sie hätte die einzige Person im ganzen Haus sein können.
    Mit einem Seufzen sah sie sich um. Der Arbeitsbereich bei den Tischen war kaum mehr mit dem Chaos von vorher zu vergleichen - sie konnte wirklich zufrieden mit sich sein, wenn schon niemand anderes ihre Arbeit lobte.
    Sie trat vor die Gerümpelkammer und stützte die Hände in die Seiten. Was für schöne Möbel hier vor sich hinstaubten! Samtbezogene Liegen und zierliche Kaffeetische, Anrichten mit Schnitzereien und dazwischen eingerollte Teppiche... Mion nahm die Kleidungsstücke auf dem Boden in Augenschein, legte sie aber wieder zurück, als der Staub sie niesen ließ. Die Kammer hätte einen ordentlichen Putz mindestens so nötig gehabt wie alles andere, aber allein konnte sie die Möbel nicht verschieben, und sie hatte auch keine Lust, sich unaufgefordert anzustrengen.
    Sie ging in den höher gelegenen Raum. Jetzt sah sie, dass es hinter der rechten Wand eine Tür gab. Ein Schwarm Fliegen stob auf, als Mion am Tisch mit der Obstschale vorbeitrat. Bei der Staffelei blieb sie stehen und betrachtete das unfertige Gemälde.
    Eine Gestalt auf einem Sessel - offenbar der Sessel vor der Staffelei - war ganz in Grüntönen gemalt worden, ohne Gesichtszüge und Augen, nur von Schattierungen definiert. Mion legte den Kopf schief und überlegte, ob es sich bei der Figur um Faunia handelte. Jedenfalls trug sie denselben Schmuck …
    Abermals fragte sie sich, wer das blonde Mädchen sein konnte, und ein unangenehmer neuer Gedanke kam ihr: Hatten Künstler nicht Musen, die sie bei der Arbeit inspirierten? Mion versuchte, sich vorzustellen, dass Faunias Gegenwart jemanden inspirierte. Magenschmerzen schienen ihr beflügelnder.
    Schließlich verließ sie die Staffelei und ging vor einem Regal in die Knie, in dem fertige Gemälde aufgereiht waren. Sie wagte sie nicht herauszuziehen, spähte aber, so gut es ging, hinein. Dunkle Landschaften... dunkle Porträts …
    Neben den Bildern lagen Skizzen. Mion betrachtete die Kohlezeichnungen. Nicht nur Entwürfe für Bilder, sondern auch genaue Studien des menschlichen Körpers und verschiedener Tiere waren darunter. Staunend hielt sie den Atem an. Obwohl die Striche so schwungvoll waren, als hätte der Zeichner keine Minute dafür gebraucht, sah alles so echt aus, dass Mion fast erwartete, die Figuren würden anfangen, sich auf dem Papier zu bewegen. Vorsichtig berührte sie die Zeichnungen mit den Fingerspitzen. Es schien ihr geradezu unmöglich, dass Jagu all das mit eigenen Händen geschaffen hatte. Ob sie eines Tages auch so wunderschöne Dinge würde zeichnen können? Ein warmes Rieseln durchlief sie.
    Nachdem sie den ganzen Raum begutachtet hatte, blieb sie vor der Tür stehen. Natürlich hatte Faunia ihr gesagt, dass sie das Atelier verlassen sollte. Aber sie hatte nicht gesagt, wie.
    Mion öffnete die Tür einen Spalt. Augenblicklich drang ihr das süße Aroma von Tabak in die Nase - so intensiv, dass sie sich für einen Moment ertappt fühlte, als wäre Jagu aufgetaucht.
    Der Raum war verdunkelt. Nur ein schmaler Streifen Tageslicht schmuggelte sich zwischen den Vorhängen hindurch und fiel wie eine weiße Narbe auf das zerwühlte Bett. Gegenstände türmten sich in den Schatten des Zimmers auf. Vermutlich mehr Gemälde.
    Hier schlief Jagu also. Dann hatte sie ihn gestern Nacht durch dieses Fenster hindurch auf und ab gehen sehen. Was ihn wohl wach gehalten hatte? Vielleicht war ihre Befreiung doch riskanter für ihn gewesen, als er sich hatte anmerken lassen. Mion war sich nicht ganz sicher, ob der Gedanke ihr missfiel oder nicht - denn dass eine Bestechung und die Mitgliedschaft in einer Gilde sie so ganz einfach retten konnten, während ihre Eltern mit all ihrer Verzweiflung hilflos gewesen waren, verbitterte sie. Auch wenn es ihr das Leben gerettet hatte.
    Sie schob die Tür weiter auf. Kein Knarren mahnte sie, noch einmal zu überdenken, in das Zimmer ihres Meisters einzudringen.
    Sie trat ein und stolperte über eine Weinkaraffe auf dem Boden. Zum Glück war sie leer - rasch stellte sie sie wieder auf und ging vorsichtig weiter.
    Ein paar Bilder waren umgeworfen worden und lagen mit der Vorderseite auf dem Boden. Sie hob eins hoch. Eine Frau mit einem herzförmigen Gesicht, der Kragen ihres Kleides umrahmte ihren Kopf wie ein Blütenblatt. Mit einem strengen, fast hochmütigen Blick sah sie Mion an. Sie legte das Gemälde wieder zurück, weil die gelben Augen sie beunruhigten, auch

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