Rabenmond - Der magische Bund
Mutter. Eiliges Trappeln erklang hinter ihm. Ein silberner Dachs flitzte den Korridor hinauf und verwandelte sich in seinen Lehrer. Accalaion entriss ihm das Pergament und starrte entsetzt auf die Zeichnung.
»Was... was ist das?«, schnaufte er.
Lyrian konnte nicht antworten. Er verstand nicht, was passierte.
»Da- das ist Menschenzeug!« Accalaions Stimme klang unnatürlich hoch. Dann holte er aus und schlug Lyrian zweimal ins Gesicht.
Die Schläge waren nicht fest, aber Dolchstöße hätten Lyrian nicht tiefer verletzen können. Vollends schockiert taumelte er zurück und fiel auf den Steinboden. Er war noch nie geschlagen worden. Nie hatte jemand ihm wehgetan. Accalaion ging vor ihm auf die Knie und zerrte ihn wieder auf die Beine, sodass er auf seinen Lehrer hinabblickte. Schweiß oder Spucke zitterte auf der dünnen Oberlippe des Mannes, der plötzlich fremd wirkte, alt.
»Was habt Ihr getan? Versteht Ihr denn immer noch nicht, dass Ihr ein Drache seid!« Seine Worte stolperten übereinander. Er zerknüllte die Zeichnung und zerriss sie eifrig. »Das ist Menschenkunst! Das Werk von Leidenschaft und Gefühlen, versteht Ihr das, mein Prinz, das geht nicht, das könnt Ihr nicht machen! Drachen haben keine Gefühle!« Noch immer drang das Schluchzen seiner Mutter durch die geschlossene Tür, lauter und schmerzvoller als zuvor. »Die Kaiserin könnt Ihr doch nicht so erschrecken! Habt Ihr keinen Respekt?«
Lyrian zitterte am ganzen Leib. Er wusste nicht, wo er hinsehen sollte, in das bleiche Gesicht seines Lehrers, auf die vielen Papierschnipsel oder zur Tür hin.
»Ich wollte nicht...«
Accalaion richtete sich auf, ohne zuzuhören, packte ihn am Handgelenk und zog ihn fort. Lyrian blickte noch einmal zurück: Die Papierfetzen bedeckten den Boden wie Blütenblätter, die man rings um Gräber ausstreut.
Ein paar Wochen später zeichnete Lyrian noch einmal. Er zeichnete Accalaion, der in Gestalt des silbernen Dachses neben ihm lag und döste. Danach faltete er das Bild zusammen und trug es versteckt unter seinem Wams, spürte es mit jedem Herzschlag, bis er abends doch den Mut verlor und es ins Kaminfeuer warf.
Eine ganze Weile zeichnete er heimlich Bilder und studierte Bücher über Menschenkünste, wenn niemand ihn bewachte. Zahllose Gesichter und schlummernde Dachse verglühten ungesehen in den Flammen seines Kamins.
Nach fast einem Jahr wurden seine Zeichnungen seltener, und schließlich hörte er damit ebenso grundlos wieder auf, wie er begonnen hatte.
Geheimnisse
D ie Tage zogen sich immer länger hin, während Mion mit ihrer neuen Heimat allein gelassen wurde wie mit einem schweigsamen Fremden, den ihr niemand vorgestellt hatte und dem sie in der langen Stille nichts zu sagen wusste. Abgesehen von den Mahlzeiten - die zwar üppiger und köstlicher als je zuvor in ihrem Leben ausfielen - bekam sie keinerlei Zuwendung. Niemand kümmerte sich um sie und, viel schlimmer, es gab nichts, worum sie sich hätte kümmern können.
Jagu hatte sie zuletzt am Morgen nach ihrer Rettung gesehen und seitdem waren nun schon sechs Tage vergangen. Er hatte nicht einmal angedeutet, dass er verreisen würde. Weder die Köchin noch Faunia oder der griesgrämige Morizius konnten oder wollten ihr sagen, wo der Meister steckte. Überhaupt wurde im Haus wenig gesprochen. Mion erfuhr allein durch große Aufmerksamkeit, dass das Dienstmädchen die Tochter der Köchin war. Sie hieß Herone und war stumm, vielleicht auch taub. Jedenfalls öffnete sie nie den Mund und reagierte nicht, wenn man sie ansprach.
Morizius hingegen murmelte ständig vor sich hin, wenn er durch die Flure schlurfte wie ein unliebsamer Hausgeist. Er mochte weder Faunia noch das Dienstmädchen noch sonst einen Menschen, wie es schien; mit der Köchin verband ihn regelrechte Feindschaft. Beide glaubten, für den Haushalt verantwortlich zu sein, und schossen während der Mahlzeiten giftige Worte aneinander vorbei, was anfangs noch recht amüsant sein konnte, spätestens nach der Suppe nervtötend wurde und beim Dessert den Erträglichkeitsgrad überschritt. Vor allem weil ihre Sprüche sich regelmäßig wiederholten.
Das Einzige, worin die zwei sich einig schienen, war ihre Meinung von Faunia: Sie hielten sie für eingebildet und faul und trauten sich nicht, es ihr offen zu sagen. Die Köchin begnügte sich mit heimlichem Augenrollen und verstohlenen Blicken, während Morizius seinem Teller etwas von »nichtsnutzigen Narren« und »eitlen Gören«
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