Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Rabenmond - Der magische Bund

Titel: Rabenmond - Der magische Bund Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jenny-Mai Nuyen
Vom Netzwerk:
dem alten Mann auf.
    »Ein Drache«, erklärte Accalaion feierlich, »ist die höchste Form der Schöpfung, das mächtigste und weiseste Wesen auf Erden. Und wisst Ihr, mein Prinz, warum das so ist?«
    Scheu schüttelte er den Kopf.
    »Nun. Das ist so, weil wir denken können. Weil die Gedanken hier drinnen -«, er tippte mit seinem langen Zeigefinger an Lyrians Schläfe und anschließend an seine eigene -, »schlauer und reiner sind als alle Gedanken der Menschen und Tiere. Und wisst Ihr, wieso Menschen und Tiere nicht so schlaue Gedanken haben können wie Ihr und ich, mein Prinz?«
    Lyrian dachte nach. Er wollte seinen Lehrer mit einer Antwort beeindrucken - schließlich sollte es ihm als Drache ja nicht allzu schwerfallen. »Menschen haben nicht so schlaue Gedanken, weil... weil die Menschen alle Diener sind, und sie gucken immer nur auf den Boden! Aber wenn man ganz fest nachdenkt, dann muss man in den Himmel gucken oder in die Luft.«
    Accalaion grinste so breit, dass seine Augen schmale Halbmonde wurden. Lyrian wusste nicht, ob das ein gutes Zeichen war.
    »Da habt Ihr recht, mein Prinz. Alle Menschen sind Diener, obwohl es natürlich auch welche außerhalb des Schlosses gibt - das wisst Ihr, nicht wahr?«
    Lyrian nickte verzagt. Sich vorzustellen, dass die Welt außerhalb des Palasts größer war (viel größer, hatte die Kaiserin einmal gesagt!), fiel ihm schwer. Er konnte sich auch nicht vorstellen, dass da draußen Diener lebten, obwohl es gar keine Drachen zu bedienen gab. Das Ganze kam ihm merkwürdig vor, ein Rätsel, über das er sich nicht gerne den Kopf zerbrach.
    »Menschen müssen Diener sein und die Drachen ihre Herrn und Schützer, weil die Menschen Liebe empfinden, genau hier.« Der lange Zeigefinger tippte gegen Lyrians Brust. »Hattet Ihr je ein Stechen im Herzen, mein Prinz? Einen plötzlichen Schmerz und dann das Verlangen, etwas ganz und gar Unsinniges zu tun?«
    Er dachte nach, doch er konnte sich nicht daran erinnern und verneinte. Accalaion lächelte wieder. »Seht Ihr: Deshalb seid Ihr ein Drache, mein Prinz. Die Menschen aber fühlen ständig etwas mit dem Herzen. Alles, was bei uns hier oben im Kopf vor sich geht, geschieht bei den Menschen im Herzen, wortlos und unverständlich. Das kann gefährlich sein, nicht wahr?«
    Das schien Lyrian einleuchtend.
    »Wenn man nicht weiß, was man tut, kann man auch nicht wissen, ob man gut ist oder schlecht. Stimmt Ihr mir zu, mein Prinz?«
    »Ja...«
    »Deshalb müssen die Drachen den Menschen helfen. Wir müssen ihnen sagen, was sie tun sollen, weil nur wir wissen, was gut ist und was schlecht.«
    »In Ordnung«, sagte Lyrian ernst. Accalaion faltete zufrieden die Hände. Lyrian war, als hätte er einen Pakt geschlossen. Nicht mit seinem Lehrer, sondern mit den Menschen.
     
    »In der Zukunft wirst du der Kaiser von Wynter sein«, hatte seine Mutter ihm verraten, lange bevor er Accalaion das erste Mal sah. »Du wirst mächtig sein, Lyrian... mein schöner, wunderschöner Lyrian! So mächtig wie ich. Und so schön, so wunderschön wie dein Vater...«
    Diese Dinge sagte sie nur flüsternd, wenn sie zusammen in ihrem Bett lagen, unter pfirsichfarbenen Baldachinen abgeschirmt vom Rest der Welt. Dann hielt die Kaiserin ihn in den Armen, so fest, dass er manchmal nicht mehr atmen konnte, und rieb ihren Kopf an seinem, als wollte sie ihr wildes schwarzes Haar mit seinem goldenen verknoten.
    Lyrian verkroch sich in ihren Armen und fürchtete dabei oft, sich nur in größere Gefahr zu bringen. Trotzdem sehnte er stets den Augenblick herbei, wenn eine Dienerin ihm verkündete, dass die Kaiserin ihn bei sich haben wollte. Manchmal vergingen Tage, bis das geschah; und jeder Tag wurde zu einer Wüste hilfloser Ungewissheit.
    Wenn er die Kaiserin besuchte, lag sie in ihrem Bett und er durfte zu ihr klettern und sich stundenlang an sie kuscheln und den Worten lauschen, die sie wiederholte, immer wieder, leise, eindringlich, wie zauberhafte Beschwörungen: »Du bist mein Lyrian, mein einziger, wunderschöner Sohn, mein Ein und Alles... du bist mein, ganz mein! Mein schöner, schöner Sohn. Du hast meine Augen, sie sind aus purem Gold... und du hast goldenes Haar, so wie dein Vater...«
    Ob sein Vater wirklich goldene Haare hatte, wusste er nicht; wann immer er ihn sah, trug er festliche Hüte und Kronen oder hatte Gestalt von Monstern angenommen. Überhaupt bekam er ihn selten zu Gesicht. Sein Vater war für Lyrian ein noch größeres Mysterium als seine

Weitere Kostenlose Bücher