Rabenschwärze: Das Mädchen aus Istland (German Edition)
kam, wurde sie gerufen.
„ He, du, Dame Rotschopf! Was ist denn mit dir passiert?“
Der Mann, der so mit ihr sprach, war ein Stoffhändler. Er sah fremdländisch aus, braun gebrannt mit gelblichen Augen und vielen Lachfältchen im Gesicht. Sein Haar war schneeweiß.
„ Na, was ist?“, wollte er wissen, da sie nicht antwortete.
Elsa kam näher.
„ Die Geschichte, wie ich hierherkomme, die würden Sie mir nicht glauben.“
„ Du willst nicht drüber reden, ich verstehe“, sagte er. „Ist auch unwichtig. Wie gefallen dir meine Stoffe?“
Elsa blieb für einen Moment an den Augen des Mannes hängen und war sich ganz sicher, dass das, was er sagte, und das, was er dachte, zwei völlig unterschiedliche Dinge waren. Das war aber nur ein flüchtiger Eindruck und schon im nächsten Moment schrieb sie diese Wahrnehmung ihrem verwirrten Zustand zu. Da sie nicht mal wusste, wer sie selbst war, lag es nahe, einen harmlosen Stoffhändler für einen verkleideten Dämon zu halten, der soeben aus seiner Flasche gehopst war, um Elsa zu fressen. Natürlich war das kompletter Unsinn. Sie wischte sich mit dem Ärmel über die Augen und versuchte, wieder normal zu werden, während der Stoffhändler seine wild gemusterten Stoffe vor ihr ausbreitete, sichtlich stolz und mit erwartungsvollem Blick.
„ So etwas hast du nördlich des Rammun noch nicht gesehen! Dort, wo diese Stoffe gemacht werden, streifen Tiger und Krokodile durch die Sümpfe!“
„ Ich hab kein Geld“, sagte Elsa.
„ Ich will nicht, dass du meine Stoffe kaufst“, sagte er und hier bekamen seine braungelben Augen etwas Ausgefuchstes, „ich will, dass du sie trägst. Du führst meine Stoffe vor und wir ziehen mit unserem Stand nach Norden, nach Brisa. Dort kannst du dich entscheiden, was du tun willst.“
„ Warum?“
„ Weil alle Frauen von hier bis Brisa bestimmt so aussehen möchten wie du. Denn du ähnelst der berühmten Morawena. Sie werden alle Stoffe kaufen, die du trägst, um ihr ein wenig ähnlicher zu werden. Natürlich werde ich dich gut bezahlen. Für jede Elle Stoff, die ich verkaufe, bekommst du eine Unze.“
Elsa wusste nicht, ob das viel oder wenig war. Sie wusste nur, dass sie Hunger hatte. „Bekomme ich einen Vorschuss? Jetzt gleich?“
Er zog einen Lederbeutel hervor und schüttete ein paar Münzen auf ihre ausgestreckte Hand. „Hier“, sagte er. „Komm wieder, wenn du dir ein Brota geholt hast. Da drüben!“
Elsa ging zu dem Stand, den er ihr gezeigt hatte, fragte nach Brota und bekam ein fettiges Stück Gebäck, das salzig und nach Kräutern schmeckte. Wie befohlen kehrte sie zu dem Händler zurück.
„ Sie sind auch nicht von hier, oder?“, fragte sie, während sie das Brota verschlang.
„ Ich komme aus Istrian“, antwortete er.
„ In Istrian gibt es Tiger?“
„ Nicht doch“, sagte der Mann. „Ich bin mit dem Schiff übers Meer gefahren, um diese Stoffe zu kaufen. Sieh her: Kupferseide, Kiefernsamt, Algenstepp, Rubinfratanellen, Hokuspokusborte ...“
„ Hokuspokus?“
„ Ein Spitzname aus dem vorletzten Jahrhundert.“ Er zog eine Borte mit Spiegelsteinen und goldenen Rillen aus einem Kästchen und sah Elsa fragend an.
„ Ja“, sagte sie. „Sieht wertvoll aus.“
„ Sieht nur so aus“, sagte der Händler. „Ich verkaufe prachtvolle Stoffe für jedermann. Sind wir im Geschäft?“
„ Vielleicht.“ Elsa betrachtete seine Auslage. „Soll ich mir diese Stoffe umhängen oder wie haben Sie sich das gedacht?“
„ Ich kenne eine Schneiderin in der Nähe. Ein Kleid reicht uns. Es muss alles darin vorkommen, was ich zu bieten habe.“
Er klatschte in die Hände und sah Elsa erwartungsvoll an. Sie wusste sowieso nicht, wohin sie gehen sollte. Aus der Stadt Brisa war jene Morawena gekommen, die angeblich vom Raben entführt worden war. Elsa versprach sich nicht viel davon, doch sie hoffte, sie könnte in Brisa etwas herausfinden. Etwas über sich selbst oder einen Weg nach Hause. Außerdem musste sie ja von irgendwas leben.
„ Gut“, sagte sie.
„ Du darfst im Anhänger auf meinen Stoffen wohnen“, sagte der Händler. „Ich heiße Diewan.“
Drei Tage lang verkaufte Diewan Stoffe am gleichen Ort, bis Elsas Kleid fertig war. Es war ein prachtvolles Kleid. Dann zogen sie weiter. Jeden Mittag gab es etwas Vernünftiges zu essen, denn Diewan verabscheute die Suppen von Sommerhalt ebenso wie Elsa. Diewan fragte nie mehr danach, wer sie war und woher sie denn tatsächlich käme. Er nannte sie
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