Rabenschwärze: Das Mädchen aus Istland (German Edition)
den Bau des Rathauses bezahlt hatten. Dass sowieso das meiste in dieser Stadt ihr Werk sei und wie tragisch es doch sei, dass Morawenas ehrenwerte Eltern so früh gestorben seien. Aber Morawenas Schwester, Sistra Reling, wohnte noch oben in den Felsentreppen. Im größten Haus weit und breit. Der Garten des Hauses war berühmt. Viermal im Jahr durften die Leute hinein und ihn besichtigen. Der Ausblick über die Stadt von dort war herrlich. Doch leider war heute kein solcher Tag, und die Besucher beschlossen, das Haus nicht aufzusuchen. Zumindest nicht heute.
Elsa hatte aber nichts Besseres vor und ließ sich von einem freundlichen Budenbesitzer erklären, wie sie zu den Felsentreppen gelangte. Es war nicht weit und schon bald erreichte sie den prächtigsten Teil der Stadt. Hier schmiegten sich große Gärten an kahle Felsen und der Wind wehte kräftiger. Es gab viele schmale Gassen, die in den Stein gehauen worden waren, und in denen man nichts sah außer einem Streifen Himmel über sich. Doch schließlich hörten die Felswände auf und Elsa erreichte einen Aussichtspunkt. Von hier aus konnte sie über die ganze Stadt schauen – die bebauten Hügel, die Mittelstadt mit dem See und das ebene Land ganz unten, wo ein breiter Fluss die Wiesen und Felder teilte. Kurz bevor der Fluss die Hügelkette erreichte, machte er einen Bogen und floss in Richtung Nordosten. Diewan hatte erzählt, dass er unweit der Stadt die Hügel durchbrach und breiter wurde. Jenseits der Hügel floss er ins Meer.
Elsa beschloss, noch weiter zu laufen, höher und immer höher, bis sie den Hügelkamm erreichte und dann vielleicht das Meer sah, das weite und dunkelblaue Wasser, das Bolhin und Diewan bereist hatten. Elsa war noch nie am Meer gewesen, weder in Sommerhalt noch in Istland. Das Haus von Sistra Reling, nach dem sie ursprünglich Ausschau gehalten hatte, wurde ihr zunehmend gleichgültig. Sie konnte ja sowieso nicht dort anklopfen und nach dem Heimweg fragen. Also würde sie lieber das Meer suchen. Als sie den Aussichtspunkt verließ, kam ihr ein Mann entgegen, der sie zu kennen glaubte. Er war vornehm gekleidet, mit Weste und langem Mantel, glänzenden Stiefeln und einem Spazierstock. Er trug einen Backenbart, so wie die älteren Herrschaften hier, und einen Hut, der seine Augen beschattete.
„ Amandis, mein Mädchen!“, rief er ihr zu. „Was machst du denn hier?“
Elsa machte den Mund auf, um zu erklären, dass er sie verwechselte, doch er ließ sie gar nicht zu Wort kommen.
„ Sistra hat mir kein Wort davon verraten, dass du wieder hier bist! Ist das Schuljahr schon vorbei oder hast du es nicht ausgehalten in Bellon?“
Ein innerer Teufel oder was auch immer veranlasste Elsa, etwas anderes zu sagen, als sie ursprünglich vorgehabt hatte. Sie hörte sich selbst lügen und die Worte tropften so schnell und natürlich aus ihrem Mund, als wären sie die reine Wahrheit.
„ Sie hat keine Ahnung, dass ich hier bin“, sagte sie. „Ich bin gerade auf dem Weg zu ihr.“
„ Ich verstehe“, sagte der Mann. „Du hast es nicht eilig und fürchtest, sie könnte sich aufregen. Aber meinen Segen hast du, ich halte nichts von Bellon und verstehe jedes Kind, das von dort flieht. Soll ich dich begleiten, damit sie dich nicht zur Schnecke macht?“
„ Sehr gerne“, sagte Elsa und verstand nicht, woher sie diese Tollkühnheit nahm. Wollte sie sich mit einem falschen Gesicht bei den Relings einschleichen? Das konnte niemals gut gehen. Trotzdem tat sie es, wie ferngelenkt, als habe jemand Mutigeres die Kontrolle übernommen. Vielleicht schien auch die Sonne zu hell und der Nokkakau floss zu dunkel durch ihre Adern und machte sie tatendurstig. Sie gab nach, in jeglicher Hinsicht, und ohne Bedenken. Hätte sie gewusst, wie groß die Gefahr war, in die sie sich begab, sie hätte auf dem Absatz kehrtgemacht und wäre gerannt, bis sie die Stadt und alle Menschen weit hinter sich gelassen hätte. Doch Elsa war ahnungslos und ihre Feinde rechneten nicht mit ihrem Leichtsinn. Gerade weil ihr Täuschungsversuch so waghalsig, so unwahrscheinlich und unvernünftig war, glückte er. Zumindest für einige Zeit.
Der Mann führte Elsa durch schmale Gassen und weitere Treppen hinauf, bis sie eine Straße erreichten, die sich im Wald an der Hügelspitze verlor. Dabei stellte er ihr Fragen, die sie sehr knapp beantwortete, in der Hoffnung, dass sie sich nicht verriet. Er verlor auch bald die Lust daran, sich mit ihr zu unterhalten, und schwieg dann,
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