Rabenschwärze: Das Mädchen aus Istland (German Edition)
was sie war, durchdrang und veränderte. Hätte sie es nicht besser gewusst, sie hätte behauptet, dass sie sich in Luft auflöste, so wie der Mann, der vielleicht einmal ein Rabe gewesen war, und dennoch leibhaftig blieb. So saß sie dort, abwartend und staunend über das, was jetzt geschah.
„ Wo ist sie?“, rief der eine.
Der andere schaute hinter die Tür und erstarrte.
„ Hier …“, sagte er, machte aber keine Anstalten, sie zu ergreifen. Stattdessen ging er ganz langsam rückwärts, mit weit aufgerissenen Augen.
„ Raus hier!“, sagte er. „Schnell raus!“
Der andere hörte nicht, sondern schaute neugierig um die Ecke.
„ Verdammt!“, rief er und drehte sich sofort weg.
Beide verließen fluchtartig das Zimmer und schlossen die Tür von außen ab. Elsa hörte, wie der Blinde fragte:
„ Was ist los?“
„ Es fängt an! Wir brauchen Hilfe. Du passt hier auf!“
„ Worauf denn?“
„ Pass einfach auf!“
Elsa hörte noch etwas von „Geld“ und „das muss sich lohnen“. Dann war es still. Elsa verließ ihre Ecke, zitternd, weil sie nicht wusste, was mit ihr los war. Sie lief zum Spiegel und was sie im Spiegelglas erblickte, ging über ihren Verstand. Da war ein Gesicht – aber es war nicht ihres! Sie sah ein Mädchen mit Sommersprossen und gelockten, rotblonden Haaren. Diese Haare steckten in einem Zopf und der Zopf steckte immer noch in der Vorhangkordel, mit der Elsa ihren Zopf zusammengebunden hatte. Sie schüttelte ungläubig den Kopf und erschrak, weil das Mädchen im Spiegel das Gleiche tat. Was hatte Tinka über den Raben gesagt?
„ Er kann das Aussehen anderer Menschen annehmen!“
Elsa wollte es nicht glauben.
„ Du bist nicht ich!“, sagte sie zu dem Mädchen im Spiegel, doch das Mädchen widersprach ihr, indem es die gleichen Worte sprach.
Wie alt mochte sie sein? Elsa schätzte sie auf sechzehn, siebzehn Jahre. Sie blickte auf ihre Hände. Was für feine, lange Finger sie hatte. Ein wichtiger Gedanke machte sich plötzlich wieder bemerkbar: Flucht! Sie musste fliehen, bevor die Männer mit ihrer Verstärkung zurückkehrten.
Sie riss sie die Vorhänge von der Stange, zog vom Bett ab, was brauchbar war, und knotete um ihr Leben. Dann quetschte sie sich durchs Fenster, was nicht geklappt hätte, wenn sie dabei nicht den morschen Holzrahmen aus der Verankerung gerissen und mitgenommen hätte. Das Vorhang-Bettlaken-Seil, das sie am Bett festgebunden hatte, hielt gerade so lange, bis sie auf Höhe des ersten Stocks angekommen war. Sie baumelte heftig hin und her, dann löste sich der letzte Knoten und sie sauste zu Boden. Beine und Hals blieben ganz, es tat nur alles weh von der Erschütterung. Schwankend und humpelnd lief sie die Straße entlang. Sie hörte den Blinden, der oben aus dem Fenster schrie:
„ Halt! Bleib stehen! Haltet die Irre, haltet sie fest!“
Doch die Leute schauten nicht auf Elsa, sie schauten hoch zu dem Mann, der in die falsche Richtung schrie. Elsa rannte weiter und weiter, bis sie einen Hof fand, in dem ein Fuhrmann Waren auslud. Dort versteckte sie sich in einem Schuppen voller Kisten. Bald wurde die Schuppentür geschlossen und Elsa blieb im Dunkeln zurück. Immer noch pochte ihr Herz und sie verstand nicht, was passiert war. Sie wollte abwarten, bis die Nacht hereinbrach, um dann aus Retna zu fliehen. Wohin, das wusste sie nicht.
Der schwache Lichtschein unter der Schuppentür wurde grauer. Als sie den Schlitz nicht mehr sah, schob Elsa die Tür zur Seite und schlich nach draußen. Retna war ein anderer Ort zur Nachtzeit. Die Straßen waren menschenleer, trockene Blätter flogen raschelnd über das Pflaster und Katzen mit mondhellen Augen saßen auf den Mauern, ohne sich zu bewegen. Elsa wählte Gassen, in denen keine Laternen brannten. Der Himmel war bedeckt und daher sternenlos. Je weiter sie kam, desto mehr roch der Wind nach Wildnis: nach Wald und Holz und feuchter Erde. Sie stapfte durch morastige Ackerböden, bis sie endlich in einen Wald kam. Dort stolperte sie über Ranken und stachlige Büsche, fiel in ein Loch und stellte fest, dass das Loch weich genug war, um darin einzuschlafen. Trotz Kühle und Nässe schlief sie tief und fest bis zum Morgengrauen. Als sie aufwachte, hatte sie quälenden Hunger. Sie war schmutzig von oben bis unten, doch das hinderte sie nicht daran, im nächsten Dorf über einen Markt zu gehen. Sie überlegte, ob sie einen Bauern anbetteln oder gleich etwas klauen sollte. Bevor sie zu einer Entscheidung
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