Rabenschwärze: Das Mädchen aus Istland (German Edition)
rechten Hand hielt er ein langes Zepter, das er wie einen Stock benutzte.
Die Männer in seiner Umgebung erschraken, als sie Elsa erblickten. Die Kunde von ihrer Ankunft im Schloss hatte sie offenbar noch nicht erreicht. Der König blieb im Vergleich dazu gelassen. Ein paar Schweißtropfen standen ihm auf der rötlichen Stirn, doch die waren bestimmt schon vorher da gewesen. Er musterte Elsa aufmerksam mit seinen blauen Augen. Der Rest seines Gesichts – abgesehen von der kräftigen Nase – ging mehr oder weniger im Bart verloren. Als er Elsa begrüßte, stellte sie fest, dass seine Stimme tief war und einen angenehmen Klang hatte. Natürlich war ihr eigener Aufzug sehr unpassend, aber der König hatte eine so gütige Ausstrahlung, dass es ihr überhaupt nichts ausmachte. Sie ergriff die große Hand, die er ihr reichte, erwiderte den Gruß und nickte freundlich.
„ Sie bleibt nur einen Tag“, erklärte Amandis weniger dem König als seinem Gefolge, „und wie ja bekannt ist, hat sie sich von den Mächten, die Sommerhalt mit Krieg überzogen haben, losgesagt. Sie war sowieso nur ein wehrloses Werkzeug in deren Händen. Es besteht also kein Grund zur Besorgnis!“
Das sahen die Männer, die vermutlich der Regierung angehörten, anders. Der Widerspruch stand ihnen ins Gesicht geschrieben, doch sie blickten ihren König an und da dieser schwieg, schwiegen auch sie. Zudem war ihnen klar, dass ein böser Rabe vor ihnen stand, von dem es in Sommerhalt hieß, er könne mit Blicken töten. Daher folgten sie dem König, der alsbald seinen Weg durch den Flur fortsetzte, mit einer gewissen Eile.
Am frühen Nachmittag betrachtete sich Elsa im Spiegel und war erstaunt. Es lag nicht an den ausnahmsweise gekämmten Haaren und dem dunkelblauen Kleid, das Amandis für sie ausgesucht hatte. Es war eine Spur zu elegant für Elsa, doch das ging in Ordnung. Es lag vielmehr an Elsas Gesicht und ihrer Figur, die so erwachsen geworden war. Sie wusste nicht recht, was sie damit anfangen sollte. Wo war das Kindergesicht, das ihr in Istland so vertraut gewesen war? Jeden Morgen hatte sie es gesehen, wenn ihre Mutter ihr die Zöpfe geflochten hatte. Jetzt war es weg. Unwiederbringlich verloren wie Istland. Mit ihm war ein Gefühl von Sicherheit und Geborgenheit verschwunden, das nicht wiederkehren konnte. Sie war gewachsen seit damals und Puja würde schimpfen und behaupten, dass Elsa zu wenig esse. Für istländische Verhältnisse hatte sie zu wenig Speck auf den Rippen. Sie war blass und noch viel ärger als früher drohten ihr die eigenen Augen mit einer schwarzen Leere jenseits aller Dinge. Sie senkte den Blick, betrachtete ihre Hände mit den geschrubbten Fingern und den geschnittenen Fingernägeln. So ordentlich hatte sie schon lange nicht mehr ausgesehen. Fast wie eine Dame. Erwachsen und ungewohnt. Sie verließ den Spiegel, vor den sie von Amandis geschoben worden war.
„ So kenne ich mich gar nicht“, sagte sie. „Ich hätte in Istland bleiben und nie erwachsen werden sollen.“
Amandis lächelte.
„ Ja, das wäre für uns alle das Beste gewesen. Hinterher ist man immer klüger, aber selbst ein Rabe kann die Zeit nicht anhalten. Oder doch?“
Elsa ließ sich von Amandis die königliche Bibliothek zeigen und lehnte dankend ab, als Amandis ein Zimmer für sie herrichten lassen wollte.
„ Ich schlafe lieber im Turm“, sagte sie. „Da fühle ich mich sicherer.“
„ In welchem Turm?“
Elsa schaute aus den Fenstern der Bibliothek, erst auf der einen, dann auf der anderen Seite. Vom Turm sah man nur die Spitze des Dachs.
„ Da oben! Nada hat mich dort eingesperrt, als ich zum ersten Mal nach Sommerhalt gekommen bin.“
„ Das war nicht König Nada“, sagte Amandis, „das darfst du nicht von ihm denken. Er hat nur Anbar seine Leute zur Verfügung gestellt, weil er ihm vertraut.“
„ Das war ein Fehler.“
„ Oh nein, das war kein Fehler. Wenn Anbar dich nicht hätte festnehmen lassen, hätte es ein anderer getan. Ein Ausgleicher, der dich dem Verfahren übergeben hätte.“
Elsa schwieg höflich. Sollte sie etwa dankbar dafür sein, dass sie jemand hatte umbringen wollen und es sich im letzten Moment doch noch anders überlegt hatte? Sie verließ das Fenster und sah sich in dem hohen Raum um, der nur aus Bücherregalen bestand und einem Tisch in der Mitte mit alten, schiefen Stühlen. Es gab auch einen Bibliothekar, der gerne bereit war, ihr Auskunft zu geben, wie er ihr versicherte.
„ Kommst du
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