Rabenschwärze: Das Mädchen aus Istland (German Edition)
Treppengeländer, mehrere Stockwerke tief. Am selben Tag erlag sie ihren Verletzungen. Sie spielte übrigens mit dem Mädchen, dessen Gesicht Sie tragen.“
„ Ulissa?“
„ Ja, zwei Freundinnen. Sie liefen immer zu zweit umher, als Ulissa ihre Ferien hier verbrachte. Ulissa beschützte die Kleine. Vor den Leuten, die sie nicht mochten. Der König, damals Prinz Nada, sammelte das Mädchen auf einer Landstraße ein, als er nach Trotz, seiner Burg bei Feuersand, reiste. Es war verwahrlost, ein Waisenkind, verwirrt und nicht unserer Sprache mächtig. Obwohl ihm die ganze Familie davon abriet, nahm Prinz Nada das Mädchen auf. Er wollte dem Mädchen ein neues Zuhause geben, ihm das Sprechen und Verstehen beibringen, sich um sie kümmern. Er hat ein gutes Herz, doch in diesem Fall brachte er dem Kind nur Unglück.“
„ Sie meinen“, sagte Elsa, die Hände verkrampft im Schoß vergraben und geblendet von einem Sonnenlicht, das die Zeiten durchlöcherte, „dass sie nicht vom Geländer gestürzt wäre, wenn er sie nicht aufgenommen hätte?“
„ Seine Freundlichkeit dem Kind gegenüber machte viele Menschen neidisch und missgünstig. Warum sollte ein Bettlerkind bedient werden? Warum sollte es mehr gelten als ein rechtschaffener Diener? Ein Bauer? Ein Koch? Sie lernte unsere Sprache, aber nur gebrochen. Oft verstand sie nicht, was die Leute zu ihr sagten. Sie war ein merkwürdiges Kind, anders als andere. Ihr Blick war den Menschen unangenehm und es passierten schlimme Dinge. So wurde sie eines Tages im Keller eingesperrt, eine ganze Nacht lang. Die Leute behaupteten, es sei aus Versehen passiert, da sie im Keller herumgeschlichen sei. Prinz Nada befürchtete etwas anderes. Er sah, wie Agnes litt. Er versprach ihr, sie mit nach Feuersand zu nehmen, wenn der Sommer vorüber wäre, wo nur wenige treue Diener des Prinzen lebten und man sie gewiss in Ruhe lassen würde. Doch das Versprechen konnte er nicht mehr einlösen.“
„ Ulissa war bei ihr, als sie starb?“
„ Das vermute ich. Ein sehr munteres, freches Mädchen war das, diese Ulissa. Aber nachdem ihre Freundin tot war, lief sie nur noch kreidebleich herum. Blieb stumm und ließ sich baldmöglichst von ihrer Schwester Morawena zurück nach Brisa bringen. Seither kam sie nie wieder.“
Elsa hörte zu. Sie vermochte sich nicht zu bewegen oder etwas zu sagen. Ihr Traum von Agnes war kein Traum gewesen. Sondern eine Erinnerung. Es waren Bilder, die sich ihr eingebrannt hatten und den Sprung von einem Leben ins nächste überdauert hatten. So erklärte sich ihr Aussehen. So erklärte sich ihr Auftauchen in Sommerhalt. Sie war zurückgekehrt an einen Ort, der für sie bedeutend gewesen war. Zurückgekehrt zu einem bärtigen Mann namens Nada, der gut zu ihr gewesen war. Aber warum? Was gab es hier noch zu erledigen?
„ Das Buch“, sagte der Bibliothekar, „blieb in dem Zimmer, in dem Agnes gewohnt hatte. Denn der König hat das Zimmer nie wieder betreten und auch nicht anderweitig genutzt, nachdem das Mädchen tot war.“
„ Aber warum wurde ich vor vier Jahren in dieses Zimmer gesperrt? Genau dort? Wenn es doch so lange nicht mehr benutzt worden ist?“
Der Mann hob die Schultern.
„ Nun ja, es ist vielleicht ein Ort, der sich gut bewachen lässt. Er ist auch freundlicher als die Gefängnisse weiter unten.“
Hier zeigte er auf den Boden unter seinen Füßen. Elsa hatte sich nie überlegt, dass es auch hier Verliese geben könnte, unterirdische Gefängnisse, ähnlich denen von Bulgokar. Sie erschauerte.
„ Haben Sie das Buch dort nicht vorgefunden?“, fragte der Bibliothekar. „Im Turm?“
Elsa schüttelte den Kopf. Sie wollte nicht lügen, aber auch nicht die ganze Wahrheit sagen.
„ Als ich heute Nacht dort geschlafen habe, war es nicht da. Aber damals, als man mich dort eingesperrt hat, habe ich darin gelesen. Ich habe es nie fertig gelesen, deswegen frage ich jetzt danach.“
„ Jemand muss es in der Zwischenzeit entwendet haben“, sagte der Mann mit Bedauern.
Elsa stimmte ihm zu, schuldbewusst.
„ Danke“, sagte sie und sackte auf ihrem Stuhl in sich zusammen. Sie war erschöpft.
„ Es gibt andere spannende Bücher“, versuchte der Bibliothekar sie zu trösten. „Über Feuersand zum Beispiel. Niemand weiß, wie das vergiftete Land in der Mitte Sommerhalts entstanden ist. Was es bewirken mag. Möchten Sie, dass ich Ihnen ein paar Bücher zu dem Thema heraussuche?“
„ Das wäre sehr freundlich“, sagte Elsa schwach.
Wenig
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