Rabenschwärze: Das Mädchen aus Istland (German Edition)
später nahm sie drei Bücher, die er ihr reichte, eines davon war ziemlich groß. Sie hielt sie mit beiden Armen fest und verabschiedete sich.
„ Sollte ich überstürzt aufbrechen“, sagte sie, „dann finden Sie die Bücher im Turmzimmer. Dort wohne ich nämlich.“
Er nickte, wie es nur ein weiser Bibliotheksweberknecht tun kann. Langsam, gelassen und zeitlos.
KAPITEL 15
Auf dem Weg zu ihrem Turmzimmer sammelte Elsa noch ein paar Brotas, Käse und eine Kanne mit Wasser ein, die sie auf einem gedeckten Tisch in einem leeren Zimmer fand. Der Weg zurück zum Turm erschien ihr sehr weit. Erst einmal, weil sie immer kreuz und quer laufen musste, denn insbesondere der alte Teil des Schlosses, in dem sie sich befand, glich einem Labyrinth. Zudem hielt sie ständig Ausschau und lauschte. Sie wollte auf keinen Fall einer Möwe begegnen, die hier als Hochzeitsgast eintrudelte. Außerdem stand sie immer noch unter dem Eindruck des Gehörten – und es erschlug sie geradezu. Langsam schleppte sie sich die Stufen zu ihrem Turm empor, die Wasserkanne in der einen, Brot und Käse, in eine Serviette eingewickelt, in der anderen Hand und die Bücher unter den Arm geklemmt. Das dickste Buch entglitt ihr irgendwann und schlitterte die Stufen hinab. Kurz blieb sie stehen und überlegte, ob sich die Mühe lohnte, hinabzusteigen und es zurückzuholen. Dann machte sie es, dem Weberknecht zuliebe.
Als sie das Buch aufhob und ihr Blick auf den Deckel fiel, staunte sie: Der Autor hieß Nada Saffanes Harard von Sommerhalt. Als hätten es die Leute nicht ertragen können, dass da kein Wort von Prinz oder König stand, hatten sie neben dem Namen ein Krönchen abgedruckt. „Sagen und Legenden des verbrannten Landes“ hieß es. Der König schien die zerstörte Mitte seines Reiches zu mögen. Schließlich verbrachte er auch viel Zeit in Trotz, der Burg am Rand von Feuersand.
Das Buch zurück unterm Arm, machte sich Elsa wieder auf den Weg nach oben. In ihrem Zimmer angekommen, breitete sie die Bücher und die Mahlzeit auf dem Tisch aus. Doch zu lesen oder zu essen fiel ihr jetzt schwer. Sie vermied es, das Agnesbild über der Waschschüssel anzusehen. Sie fürchtete sich davor. Nikodemia hatte gesagt, ihr Name sei früher Angais gewesen. Das klang so ähnlich wie Agnes. Angais hatte mit Nikodemia ein fremdes Universum verlassen, in dem man lauter fremde Sprachen sprach. In Sommerhalt war Angais verloren gegangen. Nikodemia fand sie nicht mehr. Stattdessen wurde sie von Nada aufgelesen. So musste es gewesen sein.
Das neue Zuhause, das Nada ihr gegeben hatte, war ein trauriges Zuhause gewesen. Auch wenn sie eine Freundin namens Ulissa gefunden hatte und der nette Nada ihr aus einem Buch vorgelesen hatte, in dem ein Reisender namens Bolhin von Welt zu Welt geirrt war. All das stand Elsa klar vor Augen, ebenso wie die Einsicht, dass Angais in ihrem nächsten, ihrem jetzigen Leben an diesen Ort zurückgekehrt war. Ohne zu wissen, dass es eine Rückkehr war und warum sie diese überhaupt unternommen hatte. Elsa begriff all dies und doch blieb ihr Agnes – ihr Bild, ihre Geschichte, ihre Gefühle – unheimlich. Das Mädchen war eine Fremde und sie war tot. So tot, wie es Elsa womöglich bald sein würde, wenn sie ‚Bolhins Reisen’ nicht auftreiben konnte.
Als sie das bedachte, sprang Elsa auf und durchsuchte noch einmal den Nachtschrank und alle anderen Möbel des Zimmers. Sogar unter ihrem Bett und der Matratze suchte sie. Doch sie fand nichts außer einem kundrischen Wörterbuch im Nachtschrank und einer Schildkrötendose aus Metall im Regal. Sie nahm die Dose, hob den Deckel hoch und sah eine weiße Feder darin liegen. Ob Agnes die gefunden hatte? Ob ihr auch die Dose gehört hatte?
Elsa hörte von weither Stimmen. Sie sah vorsichtig hinaus und sah viele Menschen kommen und gehen, unten im Hof und außerhalb der inneren Schlossanlage. Auf den ersten Blick schienen sie alle Einheimische zu sein – aber von so weit oben konnte sie normale Menschen von Möwen nicht unterscheiden. Zur Sicherheit klemmte sie einen Stuhl unter den Griff ihrer Zimmertür. Vom Turmzimmer aus könnte sie in Gestalt eines Raben flüchten, falls Möwen die Treppe heraufkämen. Fliegen konnten sie ja wohl nicht und somit wäre Elsa schneller.
Sie setzte sich wieder an den Tisch und las, bis es dunkel wurde. Nada wusste Interessantes zu erzählen. Er hatte die Leute in den Landstrichen rund um Feuersand befragt und deren Geschichten mit den Legenden
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