Rabenschwärze: Das Mädchen aus Istland (German Edition)
sie es nicht brauchte. Sie hörte Musik, fand aber keine Melodie, die ihr gab, was ihr fehlte. Sie besuchte Sani, die einen dicken Bauch bekommen hatte. Sie versuchte, Interesse aufzubringen für die selbst gestrickten Babysocken und die Notwendigkeit, Apfelmus im Haus zu haben, doch ihre Gedanken schweiften ab zu den Steinen auf der Fensterbank und Vogelfedern, die ihre eigenen hätten sein können.
„ Ich hätte so gerne einen zahmen Raben“, sagte Sani, „aber das muss jetzt warten.“
Elsa verabschiedete sich, nachdem sie festgestellt hatte, dass sie Sanis Leben nicht mitleben konnte. So verzweifelt war sie, dass sie sich von Puja die Telefonnummern aller ehemaligen Schulkameradinnen geben ließ, die von Sellerichkranz nach Kristjanstadt gezogen waren. Sie rief fünf von ihnen an und nahm schließlich eine Einladung zu einem Tanzabend an.
Sie hatte Glück. Sie traf dort Menschen, die so alt waren wie sie und auch kein eigenes Leben hatten. Fortan war ihr leeres Leben ausgefüllt mit Schlittenfahrten, Hallenbadbesuchen, Abendeinladungen, ersten Kochversuchen und dem, was eine neue Freundin namens Marie-Rosa „Spaß machen mit Hintergedanken“ nannte. Elsa hatte keine Hintergedanken, aber sie genoss die heiteren Monate zwischen Schnee und Frühling und kam sich fast normal vor. Nur an dem Tag, an dem Gunther-Sven ihr sagte, sie habe die schönsten schwarzen Augen, die er jemals gesehen habe, da starrte sie wie gebannt auf seine Hände und konnte nicht verstehen, was er meinte. Nach allem, was sie über sich selbst wusste, waren ihre Augen Löcher, die ins Nichts führten. Gunther-Sven musste sich also täuschen. Vielleicht meinte er ja: Die schönsten Löcher, die er je gesehen hatte? Oder angenommen, ihre Augen waren gar keine Löcher, sondern Augen – die schönsten Augen, die Gunther-Sven je gesehen hatte – wie konnte sie dann noch die Sterne erreichen? Einen Himmel weit fort von hier? Sie schüttelte sich, um die sinnlosen Gedanken loszuwerden. Das machte keinen guten Eindruck auf Gunther-Sven. Er entschuldigte sich, lief fort und klagte sein Leid Marie-Rosa, die wiederum Elsa erklärte, dass ein normales Mädchen mehr Taktgefühl besitze. Daraufhin lauschte Elsa einen Abend lang den Regentropfen, die auch kein Taktgefühl besaßen, denn sie fielen mal langsam, mal schnell, perlten das Fenster hinab ohne Muster und hatten keine Heimat, keine endgültige.
Einen Tag, bevor die Frühjahrskurse begannen, kam Urslina zurück. Sie hatte einen Tildo Jahn gefunden und im Urlaub zurückgelassen, weil er bereits eine Frau und zwei Kinder hatte. Sie weinte bitterlich um ihn, bis sie feststellte, dass einer von Elsas neuen Freunden die gleichen Manschettenknöpfe trug wie der Mann, der ihr nicht gehören konnte. Sie nahm es als Zeichen und verliebte sich in Piotr. Piotr hatte ein eigenes Auto und schnalzte im Schlaf mit der Zunge, wie Urslina bald zu berichten wusste. Zu den Kursen kam Urslina nicht mehr und als der Flieder blühte, zog sie aus. Elsa vermisste sie. Von nun an traf sie ihre Freundin nur noch einmal die Woche zu einem Toast.
Zu der Zeit, in der jeder Istländer dreimal am Tag Erdbeerkuchen isst, bestand Elsa die Abschlussprüfungen. Man empfahl ihr, Verkehrsarchitektur zu studieren. Elsa versprach, darüber nachzudenken, und setzte sich in den nächsten Zug nach Hause. In den drei Wochen, die sie dort verbrachte, stellte sie folgendes fest: In Sellerichkranz hatte sie nachts keine Angst. Es machte ihr Spaß, im Laden auszuhelfen. In Pujas Küche roch es anders als irgendwo. Die Sterne über den grünen Hügeln waren wunderschön. Ihr Herz schlug schneller, wenn sie an den Rosenrinker Klinken vorüberging. Ihre Eltern erzählten jeden Tag die gleichen Geschichten. Am Tag der Abfahrt war sie erleichtert und traurig zugleich.
In Kristjanstadt wurde sie von Gunther-Sven durch die Akademie geführt. Er erklärte ihr, wo sie sich für Verkehrsarchitektur einschreiben konnte und lud sie in die Studenten-Kantine ein. Gunther-Sven hatte die rotesten Ohren, die Elsa jemals gesehen hatte. Er war recht schmal, doch dafür hoch gewachsen und galt mit seinen blonden Locken, den grüngrauen Augen und der ungewöhnlichen Größe als gut aussehend. Elsa mochte seine Bescheidenheit und Freundlichkeit. Des Öfteren stolperte er über Treppenstufen, versenkte seinen Löffel in der Erbsensuppe oder fand kein Taschentuch, wenn es aus seiner Nase tropfte. Elsa beruhigte so etwas, hatte sie doch selbst die
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