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Rabenschwärze: Das Mädchen aus Istland (German Edition)

Rabenschwärze: Das Mädchen aus Istland (German Edition)

Titel: Rabenschwärze: Das Mädchen aus Istland (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Markus Kammer
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ins Kino, aß Schinken-Toast, trank leichtes Bier und las Illustrierte. In den Illustrierten ging es um Mode, Schauspieler, Politiker und Kochrezepte. Das Leben in Kristjanstadt lenkte Elsa ab. Mindestens zwei Monate lang. Sie verkaufte Regenmäntel und Campingtöpfe in der Reiseabteilung eines Kaufhauses und besuchte Kurse in Geschichte, Geographie und Mathematik. Das waren nicht die Fächer, die sie interessierten, sondern die Fächer, die ihre Zimmernachbarin Urslina belegt hatte. Weil Urslina lustig war, ging Elsa mit. Urslina hatte einen Lieblingsschauspieler, Tildo Jahn, was bedeutete, dass sie jeden seiner Filme im Kino anschauten. Wenn Elsa auf die Leinwand starrte, wo sich nichts anderes abspielte als ein bisschen Licht und Schatten, dann kam ihr das istländische Leben sehr wirklich vor. Abends, wenn sie aus dem Kino kamen, teilten sie sich noch ein Bier und sprangen über Pfützen, in denen sich die Leuchtreklame spiegelte. Sterne gab es in Kristjanstadt kaum – die Stadt war zu hell, als dass der Nachthimmel hätte sprechen können.
    Wenn sie nach Hause kamen, sagten sie einander Gute Nacht und Elsa ging in ihr dunkles Zimmer, ohne Licht anzumachen. Oft saß sie noch am Fenster und sah auf die leere Straße hinaus. Die stillen Autos am Straßenrand, die wilden Rosenhecken, die nur dufteten, wenn es nicht regnete, das brüchige Pflaster, aus dem die Grashalme wuchsen, und das künstliche Licht der Straßenlampen – all das war friedlich. Am meisten mochte sie es, wenn der Regen durch die Rinnen floss und plätscherte. Er deckte andere Geräusche zu, Stimmen, von denen sie einmal geträumt hatte. Es regnete oft in Kristjanstadt. „In Kristjanstadt wurden die Dächer erfunden, denn nirgendwo braucht man sie dringender“, pflegte man zu sagen.
    Wenn die Uhr der nahe gelegenen Kirche ein Uhr schlug, war es Zeit für Elsa, schlafen zu gehen. Tat sie es nicht, wurde die Nacht unheimlich. Denn dann fragte sie sich, ob mit ihrem Leben alles stimmte. Als Kind hatte man sie fortgeschickt, weil sie anders gewesen war. Weil sie in den Hügeln Spiele gespielt und sie für echt gehalten hatte. Was, wenn sie in Suaz keine Schule, sondern ein Krankenhaus besucht hatte? Einen Ort, an dem man sie zurechtgebogen hatte? Sie konnte sich kaum erinnern an Suaz. Manchmal, wenn sie nicht aufpasste, schlichen sich merkwürdige Bilder in ihre Gedanken. Von Menschen mit Flügeln oder roten Augen. Oder von Fäden, in denen sie sich verhedderte.
    Es kam immer wieder vor, dass sie sich tief in der Nacht in solchen Bildern verirrte und keinen Ausweg fand. Wohin sie auch dachte, überall lauerten Gefahren und niemand konnte ihr helfen. Wenn sie es nicht aushielt, tastete sie die Dunkelheit ab und fand Wände und Grenzen. Sie konnte Stunden damit zubringen, die Grenzen zu ertasten, mit den Händen, mit dem Atem, mit dem Etwas, das zwischen ihr und allem anderen war. Diese Beschäftigung tat ihr gut. Nie kam sie in Versuchung, die Wände zu durchbrechen. Aber ihr gefiel der Gedanke, dass es auf der anderen Seite Leben gab. Leben und Weite und noch mehr Grenzen, die kein Hindernis für sie darstellten. Wenn es gut lief, schlief sie darüber ein. Wenn nicht, wurde sie panisch. Wer in Kristjanstadt lag die ganze Nacht lang wach, um die Dunkelheit abzutasten? Sie war verrückt. Oft beschloss sie, Wenslaf am nächsten Morgen anzurufen, damit er ihr die Wahrheit sagte. Die Wahrheit über Suaz und ihre Krankheit. Aber sie tat es nie. Kaum erwachten die Autos zum Leben, sangen die Vögel in den Hecken, klapperten die Schuhe über die Gehwege, sah die Welt wieder freundlich aus. Sie musste nur früher schlafen gehen. Vor ein Uhr, bevor die Nacht zu still wurde.
    Es kam der Winter, in dem Elsa jede freie Minute für Prüfungen lernen musste. Dann begannen die Ferien. Urslina nahm einen Zug nach Süden, aber Elsa fuhr nicht mit. Vielleicht, weil es eine Herausforderung war, ohne Urslina zurechtzukommen, oder weil Urslina ihren Tildo Jahn in jedem Mann wiedererkannte, dem sie begegneten. Elsa ahnte, dass Urslina nicht ohne einen Tildo Jahn zurückkehren würde. Sie verkaufte doppelt so viele Regenmäntel und Töpfe, doch die Abende ohne Urslina waren eine Qual. Elsa erschrak darüber, wie sehr ihr Leben Urslinas Leben gewesen war. Sie hatte kein eigenes, jetzt stand sie ohne Leben da. Sie versuchte, sich zu amüsieren. Sie ging tanzen, ohne zu tanzen, sie sah nur zu. Sie kaufte ein, ohne einzukaufen, sie fasste nur alles an, um festzustellen, dass

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