Rabenschwärze: Das Mädchen aus Istland (German Edition)
zupfte an ihren Locken herum und suchte ihr Gesicht nach Pickeln ab. Leslie machte Witze über Gunther-Sven. Olf rechnete aus, wie viele Pfannkuchen jedem zustanden und fing an zu handeln, als er herausbekam, dass er seine Anzahl schon aufgegessen hatte. Denning weigerte sich, Olf einen Pfannkuchen zu verkaufen, nicht mal für eine Flasche Bier, eine der letzten. Auch Elsa war zu hungrig, um auf das Tauschgeschäft einzugehen. Marie-Rosa willigte schließlich ein und bekam die begehrte Flasche. Nach dem Frühstück konnten sich alle nur langsam aufraffen, die Hütte sauber zu machen. Noch weniger waren sie zu dem langen Marsch bereit, der wieder ins Tal führte. Wenn einzelne Wolken die Sonne verdeckten, wehte ein kalter Wind, von dem man Gänsehaut bekam. Jammernd machten sie sich auf den Heimweg.
„ He, Elsa“, sagte Gunther-Sven, der hinter Elsa lief. „Marie-Rosa und ich gehen morgen in den Mondscheinpark. Kommst du mit?“
Der Mondscheinpark war ein Freilufttheater. Eigentlich sollte der Mond scheinen, wenn die Schauspieler auf der Bühne standen, doch meistens regnete es, denn Kristjanstadt war nun mal Kristjanstadt. Die Schauspieler waren darauf eingerichtet – sie spielten in Regenmänteln und für die Zuschauer gab es eine überdachte Tribüne. Das Romantischste am Mondscheintheater war der gewürzte Wein, von dem man gute Laune bekam, auch wenn eine Tragödie gespielt wurde.
„ Gerne“, sagte sie. „Wenn ich euch nicht störe?“
Gunther-Sven gab ihr einen Schubser. „Nein, warum?“
„ Was spielen sie?“
„ Keine Ahnung“, sagte Gunther-Sven. „Bolhins Reisen?“
„ Wie?“
„ Ich mache Spaß. Ich weiß es nicht.“
„ Wie kommst du auf Bolhins Reisen?“
„ Dein Lieblingsbuch. Hast du das nicht mal gesagt?“
Ja, das hatte sie. Manchmal sagte sie so einen Unsinn.
„ Das Buch kenne ich überhaupt nicht.“
„ Habe ich mir schon gedacht.“
Sie machten nur kurze Pausen, damit sie den Zug um sechs Uhr erreichten. Darin belegten sie gemeinsam ein Abteil und teilten sich das letzte Bier. Sie waren alle entsetzlich hungrig, darum gingen sie in Kristjanstadt in die nächste Milchbar und aßen Toasts. Gegen Mitternacht kam Elsa nach Hause. Sie packte nicht mal ihre Tasche aus, sondern ging nur kurz ins Bad und fiel danach ins Bett. Sie schlief schnell ein, doch erwachte schon nach kurzer Zeit mit klopfendem Herzen und einem Schweißausbruch. Sie öffnete das Fenster, um kühle Luft hereinzulassen, und hörte die Kirchturmuhr schlagen. Ein Uhr. Die gefährliche Zeit begann.
Sie kroch wieder in ihr Bett, wickelte sich in die Decke ein und schloss ganz fest die Augen. Schlafen! Sie musste unbedingt schlafen! Aber statt zu schlafen erinnerte sie sich deutlich daran, dass sie schon einmal in eine Decke eingewickelt gewesen war. Sie hatte auf einem Bett gesessen, die Beine angezogen und die Arme um sich geschlungen und war nass gewesen.
Elsa warf sich in ihrem Bett herum. Sie musste jetzt das Licht anmachen und etwas lesen. Noch besser wäre es, ihr Zimmer zu verlassen und durch Kristjanstadt zu laufen. Doch sie tat nichts dergleichen, sondern verfolgte den Film, der in ihrem Kopf ablief und den sie nicht stoppen konnte. Wieder saß sie zusammengekauert an einem fremden Ort, in einem fremden Bett: Das Wasser lief ihr über Gesicht und Arme und sie zitterte vor Aufregung.
„ Immer wieder du!“, beschimpfte sie den Mann, der ihr gegenüber saß.
„ So ist das nun mal“, sagte er. „Geht es dir gut?“
Über diese Frage musste sie sehr gründlich nachdenken. Denn sie verstand kaum, wo sie war und wer sie war. Der Mann mit den blonden Haaren wartete. Er war ihr seltsam vertraut. Sie wusste, dass sein Auftauchen immer mit Schwierigkeiten verbunden war.
„ Du bist Anbar“, sagte sie.
Er widersprach nicht und sie bemühte sich weiter, Licht ins Dunkel ihrer Gedanken zu bringen. Um Dunkelheit ging es. Daran konnte sie sich erinnern, aber nur ohne Worte. Es war ein trostloses Gefühl, das sie noch plagte, doch nicht schlimmer als ein Alptraum, der einem noch in den Gliedern steckt, wenn man daraus erwacht. Was auch immer gewesen war, es war vorbei und jetzt schien die Sonne in ein harmlos wirkendes Zimmer.
„ Ich war in einem Käfig?“, fragte sie.
„ Ja. In einem Käfig in einem dunklen Keller.“
So musste es gewesen sein. Sie merkte, dass ihre Beine und Arme weh taten, weil sie schwach geworden waren. Doch sie konnte sprechen und sie konnte sich auf einmal gut daran
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