Rabenschwärze: Das Mädchen aus Istland (German Edition)
Angewohnheit, gegen Laternenpfähle zu laufen oder mitten im Satz stecken zu bleiben, wenn sie eine Krähe entdeckte oder ihre Gedanken abschweiften. Marie-Rosa hielt Gunther-Sven für eine gute Partie, weil er Handel und Lizenzen studierte. Elsa fand, dass es darauf nicht ankam.
„ Worauf kommt es dir an? Das möchte ich mal wissen!“, fragte Marie-Rosa.
„ Auf etwas, das Gunther-Sven nicht hat“, antwortete Elsa. „Aber ich mag ihn sehr gern.“
„ Du bist verrückt. Ich würde ihn sofort nehmen.“
Wie ernst es Marie-Rosa damit war, zeigte sich an einem sonnigen Herbstwochenende. Elsa und ihre Freunde fuhren mit dem Zug in die Wilden Wetzen, das war eine Kette von kleinen, bewaldeten Bergen südlich von Kristjanstadt. Auf einem der Wetzen hatte Marie-Rosas Onkel eine Hütte, darin wollten sie übernachten. Sie waren das Wandern nicht gewohnt, auch Elsa längst nicht mehr. Nach einer Stunde Aufstieg machten sie Rast, aßen ihre Brote, tranken warmes Bier und schliefen in der Sonne ein. Schlotternd vor Kälte wachten sie wieder auf und lachten sich gegenseitig aus. Der weitere Aufstieg zog sich hin. Als es dämmerte, mussten sie noch eine Pause einlegen. Elsa wickelte sich in die Decke, die sie mitgebracht hatte, und genoss den Duft der feuchten Erde und der Tannen. Ein Gefühl der Geborgenheit überkam sie. Vor allem, als die Nacht kam und ihre Haut mit kalten Fingern streichelte.
„ Du musst keine Angst haben“, sagte Gunther-Sven.
„ Habe ich nicht“, sagte sie und schloss die Augen. „Ich fühle mich sehr wohl.“
„ Ach, ja?“, fragte Gunther-Sven. „Bist du gerne mit mir im Dunkeln?“
„ So habe ich das nicht gemeint.“
„ Wie denn?“
„ Ich erinnere mich an etwas, das mir gefällt. Weiß aber nicht, was es ist. Geht dir das auch manchmal so?“
„ Nicht, wenn es so kalt ist. Ich würde lieber in meinem Bett liegen.“
Elsa lachte.
„ Es muss etwas Besseres geben“, sagte sie.
„ Was?“, fragte er. „Wenn es dir einfällt, sag es mir.“
Das letzte Stück des Weges legten sie im Dunkeln zurück. Es war ein Stolpern, Murren und Kichern, das verstummte, wenn in der Nähe eine Eule schrie. Elsa ging langsamer. Sie wartete eine Weile, bis die anderen an ihr vorbeigegangen waren. Sie würde den Weg finden, er war breit genug. Sie war lange nicht mehr alleine im Wald gewesen. Eigentlich noch nie. Suaz war nicht gerade für seine waldige Landschaft bekannt und in den wenigen Wäldern südlich von Kristjanstadt war Elsa nur als Kind mit ihren Eltern gewesen. Trotzdem hatte sie das Gefühl, dass ihr so ein dunkler Wald bei Nacht vertraut war. Vermutlich kannte sie ihn aus einem verbotenen Traum.
Es gab Träume, die sie nicht träumen durfte, das wusste sie. Sonst würde sie wieder krank werden und krank zu sein, das bedeutete die Hölle. Die Menschen mit Flügeln waren nur ein Hauch dessen, was sie erwartete, wenn sie ihrem Wunsch zu träumen nachgab. Nie wieder wollte sie in Schwärze und Einsamkeit versinken, nie wieder hilflos werden und ohne Hoffnung sein. Ihre Rettung war ihr wie ein Wunder erschienen und das Wunder hatte zu ihr gesagt:
„ Es ist nie geschehen! Ich bin nur ein Traum. Daran darfst du nie zweifeln, sonst ergeht es dir schlecht.“
Daran hatte sie sich gehalten. Nur wenn sie nicht aufpasste, so wie in dieser Nacht, in der ihr der Wald so wunderbar vorkam, dann blitzte in ihren Gedanken etwas auf, das sie sehnsüchtig machte. Dann kam ihr die Welt groß und endlos vor, dann gab es so viele Welten wie Sterne und irgendwo in der Finsternis ein Paar Hände, in dem die ihren verschwanden. Das fühlte sich gefährlich und schön an. Dann war sie versucht, alle Vorsicht zu vergessen, und in ihre Träume zu gleiten, die sie nicht träumen durfte. Aber sie war vernünftig. Sie schlug sich das alles aus dem Kopf. Sie musste normal bleiben. Unbedingt.
Sie trödelte, in der Hoffnung, dass am Ende des Weges eine warme Hütte auf sie warten würde, in der die anderen schon Feuer gemacht hatten. Sie kam mühelos im Dunkeln voran, es war sogar leichter als vorher, weil sie ungestört ihren Schritten lauschen konnte. Manchmal hatte sie den Eindruck, dass ihr Flügel wachsen könnten, wenn sie sich nur darauf einließe. Wenn sie bereit wäre, ihre Seele an diese Idee zu verkaufen. Das klang sehr verrückt und verrückt war sie ja auch mal gewesen. Musste es denn eigentlich ein Problem sein, wenn man verrückt war? Eine innere Stimme sagte ihr, dass sie nur knapp einer
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