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Rabenschwärze: Das Mädchen aus Istland (German Edition)

Rabenschwärze: Das Mädchen aus Istland (German Edition)

Titel: Rabenschwärze: Das Mädchen aus Istland (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Markus Kammer
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würde er nicht gefühllos sein, sondern es sich ausnahmsweise gestatten, sich an ihrer Erniedrigung zu erfreuen. Zum Abschied, als letzte menschliche Regung sozusagen, bevor er alles Menschliche hinter sich lassen und vollkommen werden würde.
    An all das dachte Gaiuper, als er über die spiralförmigen Flure langsam aufwärts schritt, bis er bei seinen Räumen angelangt war. Nun, da er die Tür öffnete und von blendendem Sonnenlicht getroffen wurde, unterdrückte er ein leises Stöhnen und schützte sich, indem er einen Arm gegen seine Stirn drückte. Er warf die Tür hinter sich zu und ging zum Tisch, der nahe der Tür im Schatten stand. Dort ließ er sich auf einem Hocker nieder und betrachtete ein Blatt weißes Papier, das vor ihm auf dem Tisch lag. Mehr brauchte er nicht, um seine Gedanken zu ordnen. Ein weißes Papier und einen Stift, mit dem er nicht schrieb. Es genügte, das Papier anzustarren und Sätze zu formulieren, die er zu einfacheren Sätzen zusammenfasste, bevor auch nur dazu ansetzte, sie niederzuschreiben. Am Ende war die Wahrheit so übersichtlich, dass er sie im Kopf behielt. Sie tatsächlich aufzuschreiben, wäre viel zu gefährlich gewesen.
    Auf diese Weise hatte er auch über ‚Bolhins Reisen’ nachgedacht, den Reiseroman, der beschrieb, warum Kundrien untergegangen war und wo die Überreste zu finden wären, wenn es sie denn gäbe. Noch einmal vergegenwärtigte sich Gaiuper die einzig wichtigen Kapitel dieses überaus langweiligen Romans.
     
    Bolhin, der Erzähler, gelangte in eine Wüstenstadt, in der er ideale Verhältnisse vorfand. Das glaubte er zumindest. Er entdeckte, dass sich die Stadt unterhalb der Erde ausdehnte. Dort besuchte er Paläste von unbeschreiblichem Ausmaß, kühl und angenehm, sanft beleuchtet durch Lichtkanäle, deren Verlauf er nicht ergründen konnte.
    Das Leben in der Stadt war friedlich. Täglich trafen Boten ein, andere reisten ab. Bolhin wunderte sich, woher sie kamen, wohin sie gingen, in der großen Wüste. Es gab drei Gruppen von Mächtigen in der Stadt. Sie wurden die Weißen, die Grauen und die Schwarzen genannt. Die Weißen hüteten das Wissen. Bolhin war beeindruckt von ihrer Gelehrtheit und den unvorstellbar großen Schriftsammlungen unter der Erde. Die Grauen regierten und verwalteten die Stadt. Die Schwarzen aber nannten sich Geweihte. Sie drangen tief in die Geheimnisse des Lebens ein und erlangten dadurch erstaunliche Fähigkeiten. Viele von ihnen, hieß es, seien unsterblich. Sie kehrten nach ihrem leiblichen Tod in neuer Gestalt in die Wüstenstadt zurück.
    Die Schwarzen wurden verehrt und gefürchtet. Die Ranghöchsten unter ihnen bewahrten die Geheimnisse und gaben das Können weiter. Sie waren gewissenhaft und doch – so munkelten die Weißen und die Grauen – brachten ihre Experimente die Natur durcheinander. Eines Tages, befürchteten sie, werde ein verbotener Schritt die ganze Stadt zerstören. Doch Bolhin sah weder Streit noch Gefahr. Die Stadt blühte, die Gesichter der Menschen strahlten von Wissen und Klarheit. Woran Bolhin sich gewöhnen musste, das war die Fähigkeit der Schwarzen, sich zu verwandeln. Wenn sie so plötzlich die Gestalt einer Katze oder eines Vogels annahmen, wurde ihm immer ein bisschen schummrig. Der Regent der Stadt, ein Grauer, war mit einer jungen Frau, die den Schwarzen angehörte, verheiratet. Viele sahen das nicht gern. Doch in einer Stadt, in der das Wissen so weit fortgeschritten war, konnte es keine Feindschaft geben.
    Eines Tages zerstörte ein starkes Erdbeben große Teile der unterirdischen Stadt und kostete viele Menschenleben. Die Schwarzen wurden zur Verantwortung gezogen: Im großen Rat bewunderte Bolhin wieder einmal die Weisheit der Stadtbewohner. Er sah keinen Streit, keine Bitterkeit. Die Schwarzen bekannten sich schuldig, obwohl ihre Schuld nicht geklärt war. Sie unterzeichneten einen Vertrag, in dem sie sich bereit erklärten, ihre Macht zu begrenzen. Freiwillig verzichteten sie auf die Vollendung ihrer Fähigkeiten. Des Weiteren wurde allgemein verboten, die Stadt zu verlassen und andernorts ohne zeitliche Verzögerung wieder zu betreten. Ein Gesetz, das Bolhin verwunderte, hätte er es doch nicht übertreten können, selbst wenn er gewollt hätte. Es wurde gesagt, dass Ortswechsel dieser Art die Stabilität der Stadt gefährdeten.
    Der Frieden, der Bolhin so beeindruckte, war nur noch von kurzer Dauer. Eine Gruppe von Schwarzen rebellierte. Sie wollten ihre Freiheit nicht einschränken,

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