Rabenschwärze: Das Mädchen aus Istland (German Edition)
Gaiuper auch gar nicht vor, ihn mitzunehmen.
„ Schick mir Tegga vorbei. Ich will alles Weitere mit ihm besprechen.“
Unass nickte. Er schien besänftigt. Mit dem Zettel in der Hand verließ er das Zimmer. Gaiuper blinzelte – er hatte seit zwei Tagen und Nächten nicht mehr geschlafen. Dennoch hatte er nicht vor, in seinem Leben überhaupt noch einmal zu schlafen. Er kam lange ohne Schlaf aus, das hatte er sich schon als Kind angewöhnt. Zu einer Zeit, als es zu gefährlich gewesen war zu schlafen, da er jederzeit im Schlaf hätte ermordet werden können, hatte er gelernt, sich auszuruhen, während alle Sinne wach und aufmerksam blieben.
Mischlinge aus Vogelwesen und Menschen waren in Bulgokar nicht sonderlich beliebt. Wenn sie nicht bei der Geburt starben, weil sie nicht lebensfähig waren oder von ihren beschämten Müttern oder Verwandten erstickt wurden, dann hatten sie ein gefährliches Leben vor sich. Ausgeschlossen aus der Gesellschaft lebten und starben sie wie die Ratten. Sie waren vogelfrei, denn niemand hätte den Mörder eines Mischlings zur Rechenschaft gezogen. Gaiuper bedauerte das nicht. Seine Kindheit war hart gewesen, doch sie hatte ihn vorbereitet und gestärkt. Wer als Mischling eine Kindheit in Bulgokar überlebte, der überlebte alles. Auch das Tor inmitten von Feuersand, so verheerend seine Wirkung auch sein sollte.
Gaiuper würde die Tage und Nächte bis zum Aufbruch mit Üben verbringen. Es machte nichts, wenn ihn die giftigen Dämpfe Feuersands körperlich angriffen und zerstörten, solange er weitergehen oder vielmehr weiterfliegen konnte. Jenseits des Tores wartete ein anderes, ein unkörperliches Leben auf ihn, und so konnte er es in Kauf nehmen, dass ihn der Weg dorthin seine Gesundheit kostete. Doch rund um das Tor mussten die Verhältnisse so zerstörerisch sein, dass es vonnöten war, den Zwischenraum zu Hilfe zu nehmen. Er würde Feuersand verlassen und sich im Zwischenraum an das Tor herantasten. Das war eine schwere und eine höchst gefährliche Aufgabe. Glücklicherweise konnte er aber auf all das zurückgreifen, was sich das Rabenmädchen im Laufe seines letzten Lebens erobert hatte: Mühelos verwandelte sich Gaiuper in einen Vogel, in verschiedene Vögel, in fliegende Reptilien mit gepanzerter Haut. Den Zwischenraum konnte er begehen, wenn es ihm auch viel Mühe bereitete. Er würde es schaffen, das letzte Stück im Zwischenraum zurückzulegen, trotz der Stürme und Strudel, die dort herrschen mussten. Er würde es schaffen, weil er es so wollte. Sein Wille, davon war er überzeugt, war der stärkste des ganzen Universums. Darum würde er auch nicht untergehen in diesem letzten aller Tore. Denn als Rabe konnte er jede Gestalt annehmen. Er würde mit den Elementen verschmelzen und mit der Kraft eins werden, die im Inneren des kundrischen Tors tobte. Er wollte so gut vorbereitet sein wie möglich. Er würde die richtige Seele am richtigen Ort sein und weder Ausgleicher noch Möwen konnten ihn aufhalten, da sie nichts ahnten von dem, was geschehen würde.
„ Du wolltest mich sprechen?“
Tegga machte sich nicht mal die Mühe zu klopfen. Er war ein Trampel, das hatte Gaiuper schon oft gedacht. Ein großer, starker Mann von unglaublicher Brutalität, der einfach so in die Räume stampfte wie ein Elefant.
„ Überlege dir, wen du mitnehmen möchtest. Außer dir kann ich noch zwei Schläger gebrauchen, sonst niemanden. Übermorgen geht es los.“
Tegga machte ein überraschtes Gesicht.
„ So plötzlich?“
Um Tegga zu demonstrieren, warum so plötzlich, verwandelte sich Gaiuper blitzschnell in ein adlerköpfiges Mischwesen und wieder zurück in den blassen, rotäugigen Gaiuper, der still vergnügt zur Kenntnis nahm, dass sein bester Kämpfer weiche Knie vor Ehrfurcht hatte.
„ Ich verstehe“, sagte Tegga. „Wo treffen wir uns?“
„ Am Tor im Inland. Gegen Mittag werden wir dort ankommen, haltet euch bereit.“
„ Wer ist wir?“
„ Das wirst du schon sehen. Kein Wort zu jemand anderem, hörst du Tegga? Auch nicht zu denen, die du mitbringst.“
Tegga nickte gehorsam und verließ den Raum, leiser als er ihn betreten hatte, was aber keine Schwierigkeit war. Gaiuper verspürte wieder diese wohlige Welle des inneren Triumphes. Nie hätte er sich die Freude anmerken lassen, die ihn durchflutete. Doch heimlich kostete er sie aus. Die Vision dieses Augenblicks hatte ihn in den dunkelsten Jahren seiner Kindheit am Leben gehalten. Damals war er der Abschaum gewesen.
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