Rabenschwärze: Das Mädchen aus Istland (German Edition)
mittlerweile. Aber sie hatte nicht gedacht, dass einer, der wie ein verwegener Kriegsheld aussah, so leicht zu verzücken wäre.
„ Ich freue mich auf den Tag, an dem ich nicht mehr Amandis bin“, sagte Elsa, stieg die letzten Stufen empor und spazierte zur Tür hinein, die Romer ihr aufhielt.
„ Warum?“, fragte Romer, als er die Tür hinter ihnen schloss. „Ihr Gesicht steht dir ausgezeichnet.“
„ Genau darum. Es ist anstrengend, ausgezeichnet auszusehen. Vor allem, wenn man erst dreizehn Jahre alt ist und ständig für achtzehn gehalten wird.“
„ Ein Rabe hat eigentlich kein richtiges Alter. Er kann ein Kind sein oder eine alte Frau, je nachdem, welche Gestalt er annimmt.“
„ Aber ich kann mich an höchstens dreizehn Jahre erinnern“, sagte Elsa. „Wenn ich eine alte Frau wäre, würde ich mich trotzdem jung fühlen.“
„ Mag sein. Möchtest du etwas trinken? Ich könnte uns einen Tee kochen.“
„ Wohnst du hier?“
„ Ich? Nein!“
Romer lachte und ging voran in eine gemütliche Küche mit einem Tisch und Stühlen in der Mitte.
„ Hier wohnt ein Freund. Was für einen Tee möchtest du?“
Er hielt Elsa mehrere Tüten mit verschiedenfarbigem Pulver unter die Nase. Sie entschied sich für ein blaugrünes, das nach Pfefferminz duftete. Dann nahm sie am Küchentisch Platz und fühlte sich an zu Hause erinnert. In Istland hatten sie auch immer zusammen um den Küchentisch gesessen.
„ Warum helft ihr mir?“, fragte Elsa.
„ Du wurdest verurteilt, bevor du etwas verbrochen hast“, sagte Romer. „Ich halte das für ungerecht. Deswegen helfe ich dir.“
„ Und Anbar?“
„ Taugt nicht zum Mörder. Er mag ja aus hartem Holz geschnitzt sein, aber ein kleines Mädchen zu seiner Hinrichtung zu bringen, das liegt ihm dann doch nicht so. Auch wenn die anderen Ausgleicher überzeugt davon sind, dass es das einzig Richtige gewesen wäre.“
„ Was für eine Hinrichtung?“, fragte Elsa.
Gebannt beobachtete sie, wie Romer das kochende Wasser in eine Kanne goss. Bei dem Wort Hinrichtung waren ihre Lippen taub geworden und das Blut war ihr aus Händen und Füßen gewichen. Fast hoffte sie, sie hätte sich verhört.
„ Die Ausgleicher haben ein Verfahren entwickelt, mit dem sie einen Raben ein für alle Mal aus der Welt schaffen können“, erklärte Romer. „Bisher haben sie den Raben immer getötet, wenn sie ihn kriegen konnten, und gewartet, bis er in seinem nächsten Leben wieder für Unruhe sorgte. Dann haben sie ihn erneut gejagt und getötet. Die Möwen dagegen können den Raben einfangen. Sie fangen ihn auf einer anderen Ebene, dem so genannten Zwischenraum, ein. Sie setzen ihn zwischen den Welten fest und sperren ihn in einen Käfig, manchmal hundert Jahre lang. So können sie sicher sein, dass er in dieser Zeit nichts anstellt. Das geht so lange gut, bis ihnen der Vogel entwischt oder er in seinem Käfig eingeht. Die schlauen Ausgleicher aber wissen nun, wie sie das Rabenproblem ein für alle Mal lösen können: Mit dem Verfahren können sie den Raben auslöschen und endgültig vernichten, sodass er nie mehr neu geboren wird.“
Es passte so gar nicht zu dem, was Romer sagte, dass er nun zierliche Tassen aus einer Glasvitrine holte und sie vor Elsa und sich auf den Tisch stellte.
„ Wie du ja weißt, hält Sistra den Raben in einem Käfig. Die Möwen sind gegen die Auslöschung des Raben, weil sie glauben, dass der Rabe in der Weltenordnung noch eine wichtige Rolle zu spielen hat. Nun ist ein zweiter Rabe aufgetaucht und das bist du. Niemand weiß, warum es dich auf einmal gibt, aber alle sind sich sicher, dass du eines Tages genauso böse werden wirst wie der Rabe, der bei Sistra im Käfig sitzt. Anbar hatte ursprünglich den Auftrag, dich dem Verfahren zu übergeben. Aber er hat seine Meinung plötzlich geändert. Statt dich damals nach Antolia zu bringen, hat er dich versteckt. Wenn er anders gehandelt hätte, würde es dich jetzt nicht mehr geben. Möchtest du Zucker in den Tee?“
Elsa starrte Romer ungläubig an.
„ Entschuldige“, sagte er, „ich bin taktlos. Mir ist diese Wahrheit schon ein paar Wochen länger bekannt als dir. Aber damals, als wir dich aus dem Schloss geholt haben, da wusste ich es auch noch nicht. Anbar hat mich über seine Ziele im Dunkeln gelassen. Er sagte, er wolle dich nach Antolia bringen, damit du dort sicher verwahrt wirst. Aber das war eine Lüge.“
„ Kein Zucker, danke“, sagte Elsa, als Romer ihr die Zuckerdose vor die Nase
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