Rabenschwärze: Das Mädchen aus Istland (German Edition)
hielt. „Ich wäre jetzt … ausgelöscht?“
„ Wenn das Verfahren klappt, ja. Es wurde noch nie angewendet.“
Romer goss sich selbst Tee ein und setzte sich zu Elsa an den Tisch.
„ Es ist komisch, dass sie alle von deiner Bosheit überzeugt sind. Aber sie haben eben schlechte Erfahrungen gemacht. Der Rabe ist immer ganz brav und normal, wenn er jung ist. Irgendwann hört das auf. Dann wird er machthungrig, will seine Fähigkeiten nutzen und alle Grenzen überschreiten. Es heißt, er bekäme Heimweh. Er fängt an, nach der Alten Welt zu suchen. Wenn er sie findet, so heißt es, werden alle Welten, die aus der Alten Welt hervorgegangen sind, aufhören zu sein. Unser Universum würde zusammenbrechen. Deswegen überzieht der Rabe die Welten mit Krieg, er bekämpft die Möwen und die Ausgleicher, die ihn daran hindern, den Heimweg zu finden. Bisher waren seine Feinde immer erfolgreich, aber der Rabe hat schon die schlimmsten Kriege verursacht. Er ist ein großer Unglücksbringer.“
„ Aber das muss doch nicht heißen, dass ich auch Unglück bringe. Ich kenne diese Alte Welt überhaupt nicht. Ich habe nur Heimweh nach Istland.“
„ Das denkst du jetzt“, sagte Romer. „Aber vielleicht wird dir eines Tages klar, dass Istland nicht deine wahre Heimat ist und der Name Elsa nicht dein wahrer Name und das Gesicht, das du für dein eigenes hältst, nicht dein wahres Gesicht. Die Wahrheit kannst du nur in der Alten Welt finden.“
„ Was soll das für eine Welt sein?“
„ Die erste aller Welten. Damals war es die einzige Welt. Es heißt, sie wurde aus den Herzen jener Wesen geschaffen, die dunkel wie die Nacht über den Himmel flogen, ewig und grenzenlos. Die Menschen, die in der Alten Welt lebten, beteten diese dunklen Geschöpfe an, sie hielten sie für Götter. Raben wurden sie genannt, denn im Bild des Raben wurden sie verehrt. Doch im Laufe der Zeitalter wurden die Menschen misstrauisch gegen die Raben. Man wollte den dunklen Göttern nicht mehr das eigene Schicksal überlassen. Die Menschen verließen die Alte Welt auf der Suche nach Freiheit. Mit Sandkörnern unter ihren Füßen – so heißt es in der Dichtung – machten sie sich auf den Weg in die Unendlichkeit und aus den Sandkörnern entstanden neue Welten.“
„ Wie viele Welten gibt es?“, fragte Elsa.
„ Unzählige! Niemand könnte sie alle bereisen.“
Elsa nippte an ihrem blaugrünen Tee und versuchte sich das vorzustellen: unzählige Welten – und Istland mitten darin. Romer streckte die Beine unterm Tisch aus, während er erzählte, und verschränkte die Arme hinterm Kopf. Elsa konnte nicht umhin zu denken, dass Romer heute weniger heldenhaft wirkte als ein paar Monate zuvor. Vielmehr schien er bemüht, einen verwegenen Abenteurer abzugeben. Er schlug die Stiefel übereinander, schüttelte immer mal wieder die dunklen Locken aus dem Gesicht und hörte nicht auf, Elsa anzulächeln, ganz gleich, was er gerade erzählte. Diese ganze Vorstellung galt der schönen Amandis, so viel war Elsa klar.
„ Den Raben“, fuhr Romer fort, „gefiel es gar nicht, dass sie die Macht über die Menschen verloren, zumal sie doch ihre Herzen für die Alte Welt gegeben hatten. Sie begannen, die Menschen zu bekämpfen und wurden tatsächlich herzlos in ihrem Bestreben, die Menschheit wieder gefügig zu machen oder womöglich sogar auszulöschen. Sie wollten die Alte Welt und damit ihre Herzen zurückerobern.“
„ Das klingt nach einer Legende“, sagte Elsa. „Nach einer Geschichte, die nicht wirklich passiert ist.“
„ Aber in solchen Legenden steckt meist ein bisschen Wahrheit“, sagte Romer und machte eine ausladende Geste mit seinem Arm. „Der Anfang der Welten liegt im Dunkel. Es gab keine Geschichtsbücher zu der Zeit. Niemand weiß, wie die Raben entstanden sind. Es gibt nur Legenden und diese ist die bekannteste.“
Elsa starrte in ihre Tasse. Sie konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, dass sie etwas mit geflügelten schwarzen Göttern gemeinsam hatte, die erst ihr Herz verschenkten und es dann unbedingt zurückhaben wollten. Elsas Sehnsüchte waren wesentlich bescheidener. Sie erinnerte sich noch gut daran, wie froh sie jeden Tag gewesen war, wenn die Schule vorbei und die Hausaufgaben erledigt waren. Dann konnte sie ganz alleine in die Hügel laufen, um dort ihre Spiele zu spielen. Zumindest hatte sie gedacht, dass es Spiele seien. Womöglich hatte sie schon damals die Grenzen der Welt durcheinander gebracht und es gar
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