Rabenschwärze: Das Mädchen aus Istland (German Edition)
gewöhnlich Hochweltler ist aber verängstigt und verweichlicht und würde sich nie in die Nähe eines Raben wagen. Sie reden zwar viel über Gerechtigkeit und die Ordnung der Welten, aber nur die wenigsten trauen sich aus dem Kreis der sicheren Hochwelten heraus. Du musst nur die Ausgleicher fürchten, die sich hier in geheimer Mission herumtreiben, aber davon gibt es doch einige.“
„ So wie Anbar.“
„ Ja, der gehört auch dazu. Aber wie gesagt, gerade will er dich nicht umbringen.“
„ Wie nett von ihm.“
„ Wenn ich in Antolia aufgewachsen wäre, würde ich mich womöglich auch vor Sommerhalt fürchten. Das tun die Leute da nämlich. Sommerhalt gehört zu den minderen Welten, die sie für finster und gefährlich halten. Und die Männer und Frauen, die sich darin behaupten, halten sie für Helden. Ist das nicht lächerlich? Als ob Sommerhalt so beängstigend wäre!“
„ Ich finde es schon manchmal beängstigend …“
„ Was hauptsächlich daran liegt, dass du eine Gejagte bist. Was ist das eigentlich, was du da die ganze Zeit an dich drückst?“
Elsa schaute ihn überrascht an. Dann sah sie an sich hinab und stellte fest, dass sie immer noch das eingewickelte Buch im Arm hielt, das ihr Nikodemia am Morgen gegeben hatte. So angespannt war sie, so verwirrt, dass sie es nicht losgelassen hatte, die ganze Zeit.
„ Ein Buch“, antwortete sie. „Ich weiß nicht mal, was für eins. Ulissa hatte es verliehen und ich … ich habe es jetzt.“
„ Lass sehen“, sagte Romer. „Da fällt mir übrigens ein, dass du ein kundrisches Wörterbuch erwähnt hattest. Erinnerst du dich?“
„ Ja“, sagte Elsa und wickelte langsam das Buch aus seiner Stoffumhüllung.
„ Kundrien ist ein Name für die Alte Welt“, erklärte Romer. „So ein kundrisches Wörterbuch, auch wenn es nur die Abschrift einer Abschrift einer Abschrift ist, ist dennoch ein Beweis dafür, dass es diese Welt einmal gegeben haben muss.“
Elsa hörte kaum zu. Denn das Buch, das nun zum Vorschein kam, war ihr vertraut. Sie konnte nicht sagen, ob es genau das Buch war, das sie in Diewans Wagen zurückgelassen hatte. Jedenfalls war es auch zerlesen, fleckig und an den Ecken abgestoßen. Liebevoll strich sie über das Titelblatt: ‚Bolhins Reisen’ war dort zu lesen. Nirgendwo stand ein Name des Autors. Das hatte sie also richtig in Erinnerung gehabt.
KAPITEL 5
Anbar kam am Nachmittag zurück und seine Laune war denkbar schlecht. Auf den Küchentisch warf er ein Päckchen, das an mehreren Stellen aufgerissen war.
„ Was ist das?“, fragte Romer.
„ Post aus Bulgokar“, antwortete Anbar. „Ein Bote hat es Amandis in die Hand gedrückt. Sie konnte es gerade noch vor Sistra verstecken.“
„ Was ist drin?“, fragte Romer, die Augen neugierig auf den Küchentisch geheftet.
„ Sieh es dir an.“
Romer hob das Päckchen hoch und griff in eine der aufgerissenen Stellen. Als er die Hand wieder herauszog, hielt er einen Zopf darin. Einen Zopf aus langen, schwarzen Haaren. Elsa erschauerte, als sie ihn sah. Hätte man ihr in Istland das Haar abgeschnitten, hätte der Zopf ganz genauso ausgesehen.
„ Ulissas Haar?“, fragte Romer.
„ Ja“, antwortete Anbar. „Amandis war außer sich.“
Romer legte den Zopf auf den Tisch, ohne ihn aus den Augen zu lassen.
„ Ihr habt es Sistra verheimlicht?“, fragte er.
„ Was sonst? Wenn Sistra erfährt, was passiert ist, wird sie ein Heer nach Bulgokar schicken, um Ulissa zu befreien. Obwohl sie sich denken kann, dass Ulissa den Angriff nicht überleben würde.“
„ Aber ist das nicht besser als gar nichts zu tun?“, fragte Romer.
„ Wir haben jemanden in Bulgokar“, sagte Anbar. „Vielleicht kann er ihr zum Ausbruch verhelfen.“
„ Ihr habt was?“ Romer sah Anbar überrascht an. „Antolia schickt Spione nach Bulgokar? Zu den Rabendienern?“
„ In der Angelegenheit kann ich nur abwarten“, sagte Anbar. „In der anderen Angelegenheit“, und hier sah er Elsa an, „muss ich dringend etwas unternehmen. Sie kann nicht hierbleiben.“
Elsa hielt sich an ‚Bolhins Reisen’ fest. Es war nicht angenehm, als Angelegenheit bezeichnet zu werden. Außerdem musste sie daran denken, wie sie das letzte Mal von Romer und Anbar verkauft worden war. Sie hatte keine Lust mehr auf ähnliche Strapazen.
„ Bring mich einfach nach Hause“, sagte sie und sah Anbar geradewegs in die Augen. „Das kannst du doch, oder? Du bist ein Ausgleicher, du kannst von Welt zu Welt gehen.
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