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Rabenschwärze: Das Mädchen aus Istland (German Edition)

Rabenschwärze: Das Mädchen aus Istland (German Edition)

Titel: Rabenschwärze: Das Mädchen aus Istland (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Markus Kammer
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hinterließ. Zum ersten Mal kam ihr der Gedanke, dass der Mann vielleicht ein Gespenst sein könnte. Dabei sah er ganz lebendig aus, der Stoff seines Ärmels raschelte, wenn er mit der Feder übers Papier fuhr, und die eine Hand, mit der er seinen Kopf abstützte, war voller Tintenflecke.
    „ Was schreiben Sie da?“, fragte Elsa.
    Er hob den Kopf und sah sie nachdenklich an.
    „ Manchmal frage ich mich das auch. Es ist eine Geschichte, meine Geschichte wahrscheinlich. Aber das Gedächtnis spielt mir Streiche, ich bin nicht sicher.“
    Er schaute wieder auf das Blatt Papier, zweifelnd und überlegend.
    „ Da steht nichts“, sage Elsa. „Das Papier ist leer.“
    „ Das spielt keine Rolle“, antwortete er. „Die Hauptsache ist, dass ich schreibe. Irgendwo ist die Geschichte dann, wenn auch nicht hier.“
    „ Sie sind sehr merkwürdig. Wie heißen Sie?“
    Er legte die Feder beiseite und tupfte die Seite mit dem Ärmel trocken, obwohl sie gar nicht beschrieben war.
    „ Die Namen entfallen mir. Sie sind ja auch nicht von Dauer. Ich bin dazu übergegangen, keinen Namen zu haben.“
    „ Sind Sie ein Gespenst?“, fragte Elsa, da sie beschlossen hatte, so viel wie möglich über diesen Mann in Erfahrung zu bringen.
    „ Ich glaube, nein“, sagte er und faltete die Hände auf dem Tisch. „Eher ein Rätsel, über das man sich den Kopf zerbrechen soll.“
    Seine Hände verschwanden zuerst. Ganz allmählich verblassten sie, gefolgt von seinen Armen, bis er schließlich ganz mit der Dunkelheit hinter dem Schreibtisch verschmolz und nicht mehr vorhanden war. Elsa lief gleich zum Tisch und untersuchte das Papier, auf das er geschrieben hatte. Es war unberührt, nicht mal ein Kratzer war darauf zu erkennen. Die Feder, mit der er geschrieben hatte, hatte der Mann mitgenommen.
    Elsa fand es komisch, dass sie den Mann nach so langer Zeit ausgerechnet hier wiedertraf, doch dann fiel ihr ein, dass sie eben noch ‚Bolhins Reisen’ gelesen hatte. Es konnte ja sein, dass zwischen dem Buch und dem ehemaligen Raben ein Zusammenhang bestand. Sie dachte daran, dass der Mann keinen Namen hatte, und in dem Buch kein Schriftsteller genannt war. So fragte sie sich, ob es womöglich der ehemalige Rabe gewesen sein könnte, der ‚Bolhins Reisen’ verfasst hatte – oder immer noch verfasste, indem er leere Seiten mit leeren Federn beschrieb. Jedenfalls machte der Mann einen traurigen Eindruck. Elsa fürchtete ihn nicht mehr. Er kam ihr vor wie ein Leidensgefährte, jemand, der nicht wusste, wer er war und wozu es ihn gab.
    Sie setzte sich auf den Schreibtischstuhl, auf dem er gerade noch gesessen hatte, und kam sich recht komisch vor. So weit war es schon mit ihr gekommen, dass ihr gespenstische Erscheinungen vertrauter waren als die echten Menschen. Aber wenn sie ehrlich war, war sie ja schon immer eine Außenseiterin gewesen. Ein Mädchen, das den istländischen Mitschülern nicht geheuer gewesen war. Wenn sie dann nachmittags in die Hügel gelaufen war und den Krähen zugesehen hatte, waren die Stunden oft wie im Flug vergangen. Ja, wie im Flug.
    War sie mit den Krähen geflogen? War sie damals schon, ohne es zu merken, zu einem Vogel geworden, der über Istlands Hügeln seine Runden drehte? Hatte sie mit den anderen Krähen um die Wette gekrächzt? Elsa starrte vor sich auf den Schreibtisch und das leere Blatt Papier. Sie ahnte, dass es eine solche Möglichkeit in ihr drinnen gab, oder noch viel schlimmer: dass ihr Wesen nur aus dieser einen Möglichkeit bestand – und nichts anderem! Wer war sie, wenn sie alles sein konnte?
    Das war ein beängstigender Gedanke. Andererseits gab es da so eine Sehnsucht in ihr, eine Ahnung von Freiheit, die sie Tag für Tag dazu getrieben hatte, fortzulaufen und in den leeren Himmel zu starren. Wenn sie die Augen schloss, konnte sie sich ganz genau daran erinnern: Sie sah den Himmel über sich und spürte, wie eine namenlose Leidenschaft ihre Adern durchfloss. Ihre Haut wurde durchlässig und ihr menschlicher Geist trat in den Hintergrund. Ihr Verstand wollte sich auflösen, doch sie ließ es nicht zu. Sie musste unbedingt wachsam bleiben, sie durfte nicht die Kontrolle verlieren. Wer weiß, wie oft sie träumend und selbstvergessen umhergeflogen war? Diesmal nicht. Diesmal öffnete sie die Augen und beobachtete, wie die Welt um sie herum größer wurde. Es geschah sehr schnell und ihr Verstand kam kaum mit. Überhaupt war alles, was sie jetzt an menschlichen Gedanken hegte, sehr schwach und

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