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Rabenschwärze: Das Mädchen aus Istland (German Edition)

Rabenschwärze: Das Mädchen aus Istland (German Edition)

Titel: Rabenschwärze: Das Mädchen aus Istland (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Markus Kammer
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Haus – all das ließ sie zusammenfahren und sie konnte sich gar nicht beruhigen.
    Dabei musste sie sich doch konzentrieren. Sie musste lernen, ihre Gestalt willentlich zu verändern. Zu diesem Zweck schloss sie die Augen und versuchte sich vorzustellen, wie ihre Grenzen durchlässig wurden. Gleich öffnete sie die Augen wieder, weil sie im Dunkeln noch mehr Geräusche hörte. Das einzige, was durchlässig wurde, war ihr Kopf. Gedanken schossen hinein und hinaus und nahmen ihr die Luft zum Atmen. Sie musste sich unbedingt ablenken. Darum schlug sie ‚Bolhins Reisen’ auf und hielt es in den Lichtschein der Nachttischlampe. Schnell fand sie die Stelle, an der sie zuletzt aufgehört hatte zu lesen.
     
    Bolhin trieb lange auf dem Meer, bis er endlich eine Küste entdeckte. Schon vom Meer aus sah er die Schornsteine großer Fabriken und den schmutzigen Rauch, der den Himmel verdüsterte. Ein unerfreulicher Anblick war das, doch Bolhin hatte nichts mehr zu essen oder zu trinken und musste dringend an Land. Gerade setzte er seinen Fuß auf den braunen Strand, da waren schon zwei Wachleute da, die ihn abführten. Sie steckten ihn in eine fensterlose Zelle, in der ein Krug mit brackigem Wasser stand und sonst nichts. Am nächsten Morgen wurde er Zeuge einer kurzen Gerichtsverhandlung, deren Sinn und Inhalt er nicht verstand. Man verurteilte ihn. Er sollte in einer unterirdischen Metallverarbeitungsfabrik arbeiten. Dort gab man ihm einen abgenutzten Kittel und wies ihn an, die Gänge auszufegen. Am Abend bekam er ein Stück Brot und wurde mit drei anderen Arbeitern in einen Schlafraum geschickt, wo er ins Dunkle starrte und überlegte, ob er nicht lieber auf dem Meer hätte verhungern oder, noch besser, im Land der Unsichtbaren hätte bleiben sollen.
    Er vermutete, er sei in einer Strafkolonie gelandet. Doch bald stellte er fest, dass man ihn gar nicht bestraft hatte. Er lebte das Leben aller, fast aller, hier im Land. Unter den Armen gab es das Märchen von den Reichen. Demnach war es möglich, Vermögen anzusammeln, das es einem erlaubte, besser zu essen, besser zu schlafen und bessere Arbeit zu tun. Alles in allem gab es aber gar keine Bezahlung. Ein Widerspruch, den Bolhin nicht verstand. Eines Tages, als Bolhin vor Langeweile nicht mehr aus noch ein wusste, legte er aus Versehen eine Bombe. Es war nur eine kleine Ungeheuerlichkeit, die die regulären Abläufe empfindlich störte: Statt die Mülleimer mit dem aufgekehrten Unrat zu füllen, nahm er Unrat aus den Mülleimern und verteilte ihn auf den Gängen. Genauso gewissenhaft, wie er sonst gefegt hatte, machte er jetzt das Gegenteil. Er tat es ohne böse Absicht und die Wachleute ermahnten ihn nicht. Sie waren auf Faulheit vorbereitet, doch nicht darauf, dass etwas rückwärts laufen könnte.
    Im Laufe des Tages wurden die Gänge unordentlicher und die Unfälle häuften sich. Ein Arbeiter lief gegen eine Wand, einer lud seine Ware vor der falschen Türe ab, ein anderer packte sie ein und brachte sie an einen falschen Ort. Gegen Abend begann das Gebäude einzustürzen. Bolhin floh. Auf seinem Weg über einstürzende Treppen nach oben begegnete er immer wieder Arbeitern, die hilflos versuchten, ihre Aufgabe zu verrichten. Er schrie sie an, sie sollten ihm folgen, aber nur wenige konnten sich losreißen. Als er das Tageslicht erreichte, bot sich Bolhin ein gruseliger Anblick: Um ihn herum versanken die Fabriken in der tiefen Erde, stürzten Schornsteine in sich zusammen, kamen einzelne Menschen wie verlorene Ameisen aus der Erde gekrabbelt. Bolhin wartete nicht lange, er folgte der Brise, die vom Meer kam, und suchte die Freiheit. Es war Nacht und es schien ein verquollener Mond hinter den schmutzigen Wolken, als er sein Boot fand, wo er es zurückgelassen hatte. Nie war er so glücklich gewesen zu entkommen.
     
    Elsa sah von ihrem Buch auf. Die Pflanzenmuster auf der gegenüberliegenden Wand zuckten manchmal ganz leicht im Licht der Nachtischlampe. Im Haus und auf der Straße war es leiser geworden. Elsa fragte sich, wie viel Uhr es wohl war, darum stand sie auf und ging mit der Lampe durch die Wohnung. Sie erschrak nicht wenig, als sie ein Zimmer mit einem Schreibtisch betrat und erkannte, dass der Stuhl vor dem Schreibtisch besetzt war. Über den Tisch gebeugt saß er da, der seltsame Dichter, der vielleicht einmal ein Rabe gewesen war. Er schrieb auf einen Bogen Papier. Als Elsa näher herantrat, um zu sehen, was er schrieb, sah sie, dass die Feder keine Zeichen

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