Rabenschwärze: Das Mädchen aus Istland (German Edition)
verschwommen in ihrem Hinterkopf. Was sie eigentlich beschäftigte, waren die Belange des Raben, der sie nun geworden war. Er sprang vom Stuhl hinab auf den Boden und lief dort umher. Er spähte in die Dunkelheit und wollte auffliegen, um einen Weg nach draußen zu finden. Elsa – oder das, was noch von ihr übrig war – hinderte ihn daran. Weil dieser Zustand gar zu seltsam war und sie immer noch fürchtete, sie könne die Kontrolle über den Raben verlieren, versuchte Elsa, in ihren menschlichen Zustand zurückzukehren. Erst stieß sie an Grenzen, glaubte, sie könne den Raben unmöglich seiner Form berauben. Doch dann entdeckte sie, dass auch der Rabe eine Sehnsucht nach Freiheit in sich hatte: Wenn sie dieser Sehnsucht folgte, löste der Rabe sich auf, und schneller, als sie es begreifen konnte, fand sich Elsa auf dem Teppich wieder. Sie betrachtete ihre Hände, tastete nach ihrem Haar und lachte, weil sie wieder die dreizehnjährige Elsa aus Istland geworden war.
Nun überkam Elsa eine große Neugierde. Auf verspielte Weise lief sie erst als kleine Maus, dann als Katze und schließlich wieder als Rabe umher. Das war sehr lustig, wenn auch anstrengend, da die Tiere sie dazu drängten, jeden menschlichen Gedanken aufzugeben. Früher in Istland hatte sie bestimmt nachgegeben, war mit den Krähen geflogen, ohne von sich selbst zu wissen und hatte sich später mit keiner menschlichen Regung daran erinnert. Jetzt beobachtete Elsa sich selbst, lenkte die Schritte des Raben in die eine, dann in die andere Richtung. Sie hielt ihn davon ab zu fliegen. Bald war sie erschöpft und gab ihre Übungen auf. Mit ihrer Lampe kehrte sie ins Dienstmädchenzimmer zurück, setzte sich aufs Bett und dachte: ‚Ich bin eine Maus gewesen’. Das war ein so lustiger Gedanke, dass sie die Wand mit den Pflanzenmustern anlachte. Eine Maus!
Bemerkenswert waren auch die unterschiedlichen Dinge, die auftauchten, je nachdem, ob sie ein Mensch oder ein Tier wurde. Als Vogel hatte sie Federn, als Tier ein Fell. Aber als Elsa trug sie das Kleid, das sie zu ihrem letzten Geburtstag bekommen und danach sehr häufig getragen hatte. Nicht nur das Kleid hatte sie auf einmal an ihrem Körper, sondern auch Schuhe und Strümpfe. Zwei Haarspangen, die sie immer in der Brusttasche ihres Kleids aufbewahrt hatte, befanden sich jetzt auch darin. Der eine Schnürsenkel ihres Stiefels war genauso dünn und kurz vorm Reißen wie noch vor Monaten, als sie Istland verlassen hatte. Wenn sie mit ihrer Zunge ihre Zähne betastete, dann waren da die rauen Plomben, die ihr der Zahnarzt im letzten Sommer eingesetzt hatte. Als sie Amandis gewesen war, hatte sie keine Plomben gehabt. Als Maus auch nicht. Sie ahnte, dass die Art und Weise, in der sie eine Gestalt annahm, etwas mit ihrer Vorstellung zu tun hatte. Doch als sie versuchte, sich in einem anderen istländischen Kleid ins Leben zu rufen, wollte es nicht gelingen. Sie konnte ihre Vorstellungen nicht willentlich beeinflussen, zumindest nicht die Einzelheiten.
Auf einmal und geradezu schlagartig wurde sie schrecklich müde. Sie unternahm eine letzte Anstrengung, um wieder Amandis zu werden, weil ihr das sicherer erschien, und schlief ein. Es musste tief in der Nacht sein, als Elsa von einem lauten Geräusch geweckt wurde. Es war die Wohnungstür, die ins Schloss fiel. Kurz darauf wurde im Flur etwas umgestoßen, das scheppernd über den Boden rollte. Elsa nahm ihre Lampe und schaute nach dem Rechten.
„ Romer?“
Er war es tatsächlich und kniff die Augen zu, als sie die Lampe auf ihn richtete.
„ Habe ich dich geweckt?“, fragte er. „Tut mir leid!“
Romer hatte ein Problem damit, die Worte deutlich auszusprechen, und der leicht unsichere Gang, mit dem er die Küche aufsuchte, verriet Elsa, dass er im Roten Hahn nicht nur eifrig spioniert, sondern auch fleißig gebechert hatte, aber vielleicht war das eine ohne das andere ja nicht möglich. Sie folgte ihm in die Küche und wollte gerade von ihren Fortschritten erzählen, als Romer sich mit beiden Armen auf den Tisch stützte und sie unverhohlen liebeshungrig anstarrte.
„ Ist die echte Amandis eigentlich auch so hübsch wie du?“
Bevor Elsa antworten konnte, dass sie es nicht wusste, aber sehr davon ausging, hatte sich Romer schon auf den nächsten Stuhl geworfen und Elsas Hand ergriffen.
„ Wen interessiert das schon“, erklärte er ihr und sah sie mit seinen dunklen Augen schmachtend an. „Wir zwei brauchen keine echte Amandis, um uns zu
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