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Rabenschwärze: Das Mädchen aus Istland (German Edition)

Rabenschwärze: Das Mädchen aus Istland (German Edition)

Titel: Rabenschwärze: Das Mädchen aus Istland (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Markus Kammer
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Gespräch denken, als sie an einem der vielen Wintertage zu Tegga gerufen wurde. Er konnte sie nicht leiden, das spürte Elsa sofort, als sie sein Zimmer betrat. Er sah sie missbilligend an, ganz anders als Gaiuper, der immer lächelte und freundlich tat. „Hier!“, befahl Tegga und stieß ihr mit dem Fuß einen Hocker hin, auf den sie sich setzen sollte. Kaum saß sie, nagelte er ihre Hand mit einem Zaubertrick am Tisch fest. „Du musst lernen, wie man kalt wird“, sagte er. „Gefühle sind Schoßtiere, man muss sie entwöhnen und in die Wildnis zurückschicken, wo sie hingehören. Gib sie frei!“
    Es war eine Beschwörung, die Elsa tatsächlich Erleichterung verschaffte. Als sie in der Hand einen ziehenden Schmerz verspürte, konnte sie ihn wegschicken, indem sie darauf verzichtete, die Hand als ihre eigene anzuerkennen. Es war eine seltsame Erfahrung.
    „ Stärker!“, befahl Tegga.
    Elsa wusste nicht, ob er den Schmerz meinte oder ihre Versuche, die Gefühle in die Wildnis zurückzuschicken. Es gelang ihr diesmal schlechter. Eine Stunde lang mühte sie sich vergebens, bevor Tegga sie wieder entließ. So ging es Tag für Tag, Woche für Woche. Tegga verstärkte den Schmerz und sie mühte sich, ihre Gefühle loszuwerden. Sie machte Fortschritte. Als endlich der Frühling kam und Bulgokars ausgetrocknete Flüsse mit Regen füllte, hatte Elsa vergessen, was Tränen waren. Wenn Tegga ihr Schmerzen schickte, sagte sie sich von ihnen los. Die Schmerzen zogen von dannen, sie aber fiel langsam in eine stille, leblose Schneelandschaft hinab, einen Ort, den sie nun in sich trug. Tegga hatte ihr beigebracht, ihn zu schaffen und zu benutzen.
    Und wenn Gaiuper sie nun zu sich rief, hörte sie ihm aufmerksamer zu als zuvor. Sie konnte sich genau vorstellen, wie sie am Ende aller Tage über die schwarz gewordenen Himmel wandern würde, als einziger Stern in einer endlosen Nacht. Wie sie ihre Diener in sich tragen und mit ihnen die Ewigkeit kosten würde, wandelnd in einem unendlichen Frieden. Elsa konnte es deutlich vor sich sehen. Das Schlimme daran war, dass dieses Bild nichts mehr in ihr auslöste. Weder Angst noch Staunen noch Sehnsucht. Es war ihr gleichgültig geworden, ob all das eines Tages passieren würde oder auch nicht. Sie tat, was man ihr sagte.
    Zu dieser Zeit verlor der Reif zum ersten Mal seine Wirkung. Sie übte gerade Pfeilschießen, lauschte den Anweisungen des Schlägers, verschmolz mit seinen Gedanken, spürte, dass sein Ziel ihres war. In diesem Moment war nichts an ihr kleinlich oder schwach, nichts an ihr war Elsa. Sie war ein Rabe, sie schoss den Pfeil ab und traf ins Schwarze. Kaum löste sich ihr Ich in der gestellten Aufgabe auf, fand der Reif um ihren Hals keinen Angriffspunkt mehr. Auf einmal war sie frei, jede Gestalt anzunehmen, die ihr behagte.
    Es war eine Freiheit, die sie überraschte und sich so eilig verflüchtigte, wie sie gekommen war. Kaum dachte Elsa wieder ihre eigenen Gedanken, erlangte der Reif seine Macht zurück. Sie lernte es sehr schnell: War sie eins mit den Dienern und ihrer Lehre, konnte sie ihre Flügel ausbreiten und über Bulgokar hinwegfliegen. War sie dagegen ein Mädchen, das die Diener fürchtete, das an Flucht dachte oder einfach nur Heimweh hatte, dann hielt sie der Reif gefangen.
    Als der Sommer kam, hatte Elsa gelernt, der Rabe zu sein, den Gaiuper sich wünschte. Sie konnte selbstvergessen und mächtig sein. Doch diesen Zustand hielt sie nicht durch. Sie wollte ihn gar nicht durchhalten, sie blieb hin- und hergerissen zwischen persönlichem Elend und einem Größenwahn, der ihr Angst machte. Wenn es überhaupt Wahn war, der sie da beherrschte, und nicht die Göttlichkeit, vor der sich Gaiuper verneigte. Wahn oder Göttlichkeit, es sollte nicht die Übermacht gewinnen, und deswegen hatte sich Elsa angewöhnt, heimlich das Gegenteil von dem zu üben, was Tegga ihr aufgetragen hatte. Spät abends, wenn man sie in Ruhe ließ und es ihr gelang, lange genug wach zu bleiben, dann streifte sie in der Wildnis umher – oder dem, was Tegga dafür hielt – um ihre Gefühle wieder einzusammeln. Sie lockte die vertriebenen Schoßhunde in ihr Schlafzimmer und lud sie dazu ein, in ihrem Bett zu schlafen. Gekuschelt an ihre jämmerlichen Gefühle kam sie sich wieder vor wie ein richtiger Mensch. Bei allen Glanzleistungen, die sie im Zustand der Selbstvergessenheit vollbrachte, war es ihr doch immer noch am liebsten, keine Rabenkönigin zu sein. Es lag ihr nicht, es machte

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