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Rabenschwärze: Das Mädchen aus Istland (German Edition)

Rabenschwärze: Das Mädchen aus Istland (German Edition)

Titel: Rabenschwärze: Das Mädchen aus Istland (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Markus Kammer
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bist noch beschissener dran als ich“, stellte er auch an diesem Abend fest. „Sie haben dich zum Mittelpunkt ihres bescheuerten Spiels gemacht und jetzt darfst du rennen oder kämpfen. Ich habe einen Job, mit dem ich leben kann, und aus dem Gröbsten halten sie mich raus.“
    „ Aber glücklich bist du trotzdem nicht, sonst würdest du eifriger nach einem Tor suchen.“
    „ Glücklich war ich noch nie“, antwortete er und wickelte mit kindlichem Eifer Pflanzenfasern um einen Knochen. „Außerdem weiß ich, dass ich von Irren umgeben bin. Wer weiß, was denen plötzlich einfällt? Deine Freundin ist auch so eine. Wenn die mich nicht brauchen würde, hätte sie mich längst abgemurkst. Das ist nicht nach meinem Geschmack.“
    „ Sie hat merkwürdige Ansichten. Aber vieles ist nur Gerede. Sie meint es nicht so.“
    „ Ach ne, glaub das mal ruhig.“
    Sie hatten schon darüber gesprochen, wie sie über die anderen Welten gestolpert waren. Kamark hatte sich in einem U-Bahnhof verlaufen. Stundenlang war er durch Gänge und über endlose Treppen geirrt, um herauszufinden, dass seine U-Bahn-Linie nicht mehr existierte. Ja, nicht mal mehr die Stadt existierte, in der er lebte, da er in einer fremden Stadt eingetroffen war, in der man eine seltsame Sprache sprach. Vielleicht wäre er für immer in der fremden Welt gestrandet, hätte er nicht einem Saxophonspieler gelauscht, der in einem der langen, grün gefliesten Gänge stand und spielte. Kamark hatte sich müde auf den Boden gesetzt, der Musik zugehört und plötzlich gemerkt, dass es außer dem Luftzug, der ständig durch die Schächte wehte, noch etwas anderes gab, das in seinen Haaren kitzelte und seine Augen zum Tränen brachte. Das war ein Gefühl, das durch die Musik verstärkt wurde, etwas wie Heimweh, Sehnsucht oder auch nur der sechste Sinn eines Schatzsuchers. Als er es ganz deutlich spürte, stand er auf, um dem Gefühl zu folgen. Manchmal verlor er es, dann fand er es wieder. Irgendwo auf der Treppe zwischen zweiter und dritter U-Bahn-Ebene fand er die Lücke, aus der dieses Gefühl kam. Das war das erste Tor, das er mit Bewusstsein wahrgenommen hatte. Er merkte, dass er in das Tor hineinhorchen und Richtungen ausmachen konnte. Damals ging er geradewegs nach Hause zurück. Er hatte genau gewusst, wo er hingehen musste. So wie die Zugvögel genau wissen, wo sie hinfliegen müssen.
    Zu jener Zeit hatte Kamark noch Markus Kammer geheißen. Kamark war sein Nickname gewesen, sein Spitzname im Internet. Das Internet, so verstand es Elsa, war eine Welt, die aus der Verbindung zahlloser Computer entstanden war. Im Inneren dieser Verbindung existierte ein leuchtender Zusammenhang, an dem man teilnehmen konnte, wenn man in einen Bildschirm blickte und Tasten betätigte. Kamark war sich nicht sicher, wie wirklich diese Welt war.
    „ Denn am Ende“, pflegte er zu sagen, „hast du doch nur zwölf Stunden auf deinem Arsch gesessen und die gleiche stinkende Luft geatmet.“
    Er hatte es nicht lassen können, immer wieder zur U-Bahn-Station zurückzukehren und seine Welt zu verlassen. Obwohl er, wie er selbst zugab, ein Angsthase war. Doch die Neugier wurde zur Sucht und er ging weiter und immer weiter. Bis er eines Tages eine Grenze überschritt, die ihm für immer den Rückweg versperrte, ganz einfach deswegen, weil er die Grenze nicht mehr fand.
    „ Weißt du, was daran besonders komisch war? Seit ich über diese Grenze gegangen bin, sprechen alle Leute mehr oder weniger die gleiche Sprache. Ich muss mich nur an einen neuen Klang gewöhnen, einzelne fremde Wörter oder so. Aber ihr alle, ihr sprecht die gleiche Sprache. Bevor ich den Rückweg verloren habe, wurden in jeder Welt tausend unterschiedliche Sprachen gesprochen. Kannst du dir das erklären?“
    Das konnte Elsa natürlich nicht. Sie hatte weit weniger Ahnung von den ganzen Welten als Kamark. Man musste ihm lassen, dass er herumgekommen war. Er hatte auch einen Kalender für sich erfunden, der es ihm erlaubte, immer zu wissen, wie viel Zeit in seiner Heimat vergangen war, ganz gleich, wie viele zu kurze Tage oder zu lange Nächte er in fremden Welten zu fremden Jahreszeiten in fremden Zeitrechnungen verbracht hatte. Er zeigte Elsa, wie sie die vergangene Zeit an ihren Fingern abzählen und schließlich in Form eines Knotens in einer Schnur festhalten konnte. Kamark hatte immer zwei Schnüre, falls er eine verlor. Eine von beiden trug er um den Hals und in regelmäßigen Abständen lernte er seine Knoten

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