Rabenschwärze: Das Mädchen aus Istland (German Edition)
los und sah sich um.
„ Wir leben noch“, sagte Sinhine. Ihre Stimme zitterte.
Elsa betastete den Reif um ihren Hals. Er war wieder da, er hielt sie wieder fest, und zwar genau seit dem Augenblick, als ihr klar geworden war, dass sie nicht sterben musste. Sie fragte sich, ob es wohl möglich wäre, sich selbst auszutricksen, sodass sie sich in trügerischer Todesgewissheit von der Macht des Reifs befreien könnte. Aber wie sie so darüber nachdachte, konnte es eigentlich nur unmöglich sein. Sie setzte sich auf einen der Steine, schließlich war sie immer noch verletzt und nicht weniger müde als noch vor einigen Minuten. Das Moos, das den Stein bedeckte, war feucht wie ein Schwamm und durchnässte den Stoff ihrer Kleidung. Aber sie fühlte sich gut. Sie atmete die reine, saubere Luft ein und verstand gar nicht, warum Sinhine so panisch auf und ab ging und dabei mit den Flügeln schlug.
„ Ich hoffe, du kannst uns wieder hier wegbringen!“, rief Sinhine. „Ich bin zwar froh, dass wir noch leben, aber ich will nicht den Rest meiner Zeit in einer unbewohnten Welt absitzen!“
„ Diese Welt ist unbewohnt?“, fragte Elsa. „Wie kommst du darauf?“
„ Das fühlt man doch!“
Kamark betastete die Steine auf der Suche nach einem trockenen Plätzchen, doch er fand keines. Er war sowieso nass, da er vor ein paar Stunden in einen Fluss gefallen war. Er sah sehr verfroren aus.
„ Sie ist bewohnt“, sagte er und setzte sich dann doch auf einen nassen Stein. „Habe ich gleich gesehen.“
„ Ach, und wo?“
Er zeigte mit der Hand in die Ferne, dort wo die Ebene fast im Dämmerlicht verschwand.
„ Na, wenigstens etwas“, sagte Sinhine.
Elsa brauchte eine Weile, dann entdeckte sie den kegelförmigen Haufen aus Steinen, den kein Wind hätte zusammentragen können.
„ Und jetzt?“, fragte Kamark.
Es war deutlich zu hören, wie seine Frage gemeint war. Er wollte wissen, woher er jetzt eine Mahlzeit und etwas Warmes zum Anziehen bekäme. Diesen Service war er nun mal gewohnt.
„ Tu gefälligst, wofür du bezahlt wirst!“, fuhr Sinhine ihn an. „Such uns ein Tor!“
Kamark machte ein dümmliches Gesicht.
„ Sofort?“
„ Was denn sonst!“
„ Sinhine“, mischte sich Elsa ein, „sollten wir uns nicht erst mal ausruhen und was essen? Wo sollen wir denn hingehen, wenn Kamark ein Tor findet? Kämpfen kann ich jetzt sowieso nicht.“
Sinhine und Kamark starrten sie an. Sinhine war empört, Kamark erstaunt.
„ Elsa!“, rief Sinhine. „Unsere Leute brauchen dich! In diesen Stunden entscheidet sich, ob Bulgokar steht oder fällt!“
„ Ja, warten wir doch einfach ab, wie es ausgeht.“
„ Das meinst du nicht ernst!“
„ Vollkommen ernst meine ich das.“
Sie meinte noch etwas ganz anderes, doch sie wagte es nicht zu sagen. Denn gerade war ihr die Idee gekommen, dass sie in dieser Steinhaufen-Welt sicher sein könnte. Warum sollte sie überhaupt zurückkehren? Vielleicht hatte sie ja Glück und man hielt sie für tot. Es war doch zu albern, dass diese Zeichen auf ihrem Rücken die Rabendiener hierherführen sollten. Das konnte sie sich nicht vorstellen, beim besten Willen nicht. Sie atmete tief ein und aus und mit jedem Atemzug wurde die Gefahr unwirklicher und ihr Herz leichter.
„ Wann werden wir wohl ein Tor finden, Kamark?“
Er zuckte mit den Achseln.
„ Kann dauern. Manche Welten haben nur zwei oder drei …“
Sinhine schrie auf und machte einen Satz auf Kamark zu.
„ Sei still! Sag das nie wieder! Ich ersticke, wenn ich das höre! Elsa, du hast uns hierhergebracht, du kannst uns auch wieder wegbringen!“
„ Wenn du jetzt versuchen würdest, mich zu ermorden, dann könnte es klappen“, sagte Elsa, bereute es aber gleich, da Sinhine tatsächlich mordlustig aussah. Schnell bemühte sich Elsa, ein getragenes Gesicht zu machen, und zeigte auf den Reif um ihren Hals. „Ganz im Ernst: Mit dem da kann ich gar nichts. Es sei denn, ich will nichts. Verstehst du? Ich hab’s dir doch schon so oft erklärt! Wenn ich diese Welt verlassen will, hält er mich fest.“
Das leuchtete Sinhine ein. Sie verschränkte die Arme und starrte wütend in die Ferne. Elsa und Kamark tauschten einen vorsichtigen Blick. Elsa kannte Kamark so gut wie gar nicht. Dennoch las sie es in seinem Gesicht, dass er genauso wenig zurückkehren wollte wie sie. Dass er mit dem Gedanken spielte, sich seinen eigenen Weg zu suchen. Es machte ihn zu ihrem Verbündeten, wenn sie auch unterschiedliche Ziele haben
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