Rabenschwärze: Das Mädchen aus Istland (German Edition)

ist. Sie machen sich etwas vor. Eigentlich sind sie verrückt. Ich habe heute Morgen mit einer Köchin gesprochen. Sie pflückt ihr Gemüse angeblich auf dem Meeresboden. Sie behauptet, sie schwimme einige Tage, um bestimmte Blätter zu finden.“
    „ Und?“
    „ Jeder weiß, dass die Ganduup nicht schwimmen können.“
    Sinhine sagte das so bestimmt, dass Elsa nicht weiter fragte. Das war ein empfindlicher Punkt bei den Vogelmenschen: Sie konnten weder fliegen noch schwimmen. Aber sie behaupteten gerne, dass es die anderen auch nicht konnten. Elsa konnte schwimmen. In seltenen, wertvollen Augenblicken, wenn sie sich selbst, ihre Vergangenheit, ihre Zukunft und den Reif um ihren Hals vergaß, dann konnte sie als Delfin, Robbe oder Fisch durchs Meer ziehen. Wenn sie tauchte, sah sie das Licht der Sonne in Wellen und Mustern über den sandigen Meeresgrund wandern. Sie aalte sich in warmen Strömungen, schoss durch unterirdische Wasserfälle und lachte, wie Fische lachen. Rabendiener zogen in Booten als dunkle Schatten über die Wasseroberfläche, um sie zu bewachen.
    „ Wen überfallen wir als nächstes?“, fragte Elsa einige Wochen später.
    Sie machte einen gedankenlosen Scherz, nachdem sie Wein getrunken hatte. Gaiuper, der ihr gegenüber saß, trank nie etwas anderes als Wasser.
    „ Fischerdörfer im Norden“, antwortete Gaiuper.
    Elsa richtete sich in ihrem Sessel auf.
    „ Wirklich?“
    „ Wir müssen warten, bis der Fischsommer vorbei und die Ernte geräuchert ist. Sonst haben wir ein Heer, aber nichts zu essen.“
    Elsa verging das Lachen, als sie das hörte. Sie stellte ihr Glas ab und erinnerte sich daran, wie sehr sie in der Falle saß.
    „ Wir ziehen wieder in den Krieg?“, fragte sie. „Mit den Ganduup?“
    Gaiuper antwortete nicht. Natürlich mit den Ganduup, das gab ihr seine versteinerte Miene zu verstehen. Ohne klappte es ja nicht.
    „ Holanda kommt auch mit?“
    „ Sicher.“
    Holanda, die Anführerin der Ganduup, war stumm. Sie nickte nur oder schüttelte den Kopf, manchmal gab sie ein Zeichen mit der Hand. Meist lasen Ganduup-Priesterinnen ihre Gedanken und sprachen sie aus. Angeblich. Heimlich dachte Elsa, dass Holanda überflüssig war. Sie schwebte durch ihre Festung, alterslos, ohne zu lachen, zu essen oder zu schlafen, wie eine Königin, die nicht regierte.
    „ Wie will sie mit uns marschieren?“, fragte Elsa. „In einer Sänfte?“
    „ Zu Fuß, getragen vom Wind.“
    „ Seltsam.“
    „ Weißt du, was Gespenster sind?“
    Elsa nickte.
    „ Nun“, sagte Gaiuper, „Gespenster brauchen keine Sänfte. Sie können harmlos sein, aber auch grausam. Mit Holanda ist das genauso.“
    Der angekündigte Tag kam bald. Der Tag, an dem die Fische geräuchert waren und die Fischer zur Beute der Rabendiener werden sollten. Holanda zog mit ihren Ganduup übers Meer, auf einem Boot, das selbst wie eine Luftspiegelung aussah. Die Fischer kämpften nicht, wie es die Menschen in Brisa getan hatten. Sie sanken traurig zu Boden, als Holandas Krieger ausschwärmten. Schließlich kehrten sie in ihre Hütten zurück, packten ihr Hab und Gut zusammen und versammelten sich willenlos.
    „ Es ist das Beste so“, hörte Elsa einen betrübten Fischer sagen. „Hier haben wir keine Zukunft mehr. In den anderen Welten wartet Großes auf uns.“
    Daran glaubten sie wirklich, die Fischer. Es machte ihnen Hoffnung. Elsa glaubte nichts dergleichen, als Gaiuper sie anwies, ihr Hab und Gut zusammenzupacken für eine Reise, die Jahre dauern sollte.
    „ Warum?“, fragte sie. „Wohin gehen wir?“
    „ Überallhin“, antwortete Gaiuper und dabei leuchteten seine Vogelaugen wie glühende Kohlen.
     
    Gaiuper hatte nicht zu viel versprochen. Elsa staunte jedes Mal wie ein Kind, wenn sie von einer Welt in die nächste reisten. Die Begleiterscheinungen waren unschön – sie waren schließlich in kriegerischer Absicht unterwegs – doch langweilig wurde es nie. Jede Welt war wie ein Bilderbuch, das Elsa durchblätterte, um ein paar Erinnerungen zu behalten. Für den Rest konnte sie nichts. Zumindest versuchte sie sich das einzureden, jedes Mal, wenn sie das schlechte Gewissen plagte.
    Die Ganduup überließen Gaiuper die Marschroute und das tägliche Geschäft. Welches bedeutete: Vorräte erobern, Heere von Rabendienern einsammeln und Sklaven erbeuten. Holanda hatte Gaiuper großzügig ihre Krieger zur Seite gestellt und diese führten Gaiupers Befehle widerspruchslos aus. Das gefiel Gaiuper. Es ließ ihn mächtig