Rabenschwärze: Das Mädchen aus Istland (German Edition)
die Welten, in denen sie gewesen waren, all die Städte, die zerstört worden waren, die Menschen, die getötet oder verschleppt worden waren – die hatten Elsa zwar betrübt, aber wenn sie ehrlich war, hatte sie sich damit abgefunden. Die Schlachten glichen unangenehmen Träumen, die sie im Laufe der Zeit immer weniger berührten, zumal sie sich eingeredet hatte, dass sie sowieso nichts daran ändern konnte. Wenn jedoch Sinhine, wie es einmal geschehen war, mehrere Wochen lang mit hohem Fieber kämpfte und zu einem Skelett mit gerupften Flügeln abmagerte, dann verging sie vor Sorge, Kummer und Mitgefühl. Sie war dazu übergegangen, gewisse Gedankengänge zu meiden. Gefühle auszuklammern, die sich mit ihrem Gewissen und der Frage der Schuld befassten. Aber jetzt, da sie nach Sommerhalt zurückkehren sollte, ließen sich die beiseite geschobenen Gedanken nicht mehr bremsen. Sie kehrten zurück mit all der Kraft, die Elsa hineingesteckt hatte, um sie loszuwerden. Dies führte unweigerlich zu der Einsicht, dass Nikodemia recht gehabt hatte: Wenn sie zu den Guten gehört hätte, dann hätte sie in Bulgokar nach einem Weg gesucht, ihr verhängnisvolles Leben zu beenden. All die Kriege, die Überfälle, die Verschleppungen, die in ihrem Namen stattgefunden hatten, wären womöglich nie passiert. Aber sie hatte es nie versucht, hatte die Notwendigkeit einer solch verzweifelten Tat nicht eingesehen. Jetzt saß sie da mit ihrer Schande und in Sommerhalt warteten die nächsten Opfer, unter ihnen womöglich so harmlose Dienerinnen wie Tinka.
Elsa fragte sich, warum. Warum bloß hing sie an ihrem Leben, obwohl man ihr gesagt hatte, dass nach dem Tod das nächste Leben auf sie wartete? Das nächste, das übernächste und immer so weiter, bis in alle Ewigkeit. Also warum? Wahrscheinlich, weil es ihr so sinnlos erschien, auf ewig von Puja und Wenslaf getrennt zu sein. Und von ihrem Kinderzimmer in Istland. Noch immer glaubte sie daran, dass die Wirklichkeit dort eine andere war. Wenn es ihr nur gelänge, auf irgendeinem verborgenen Weg in ihre eigene Welt zurückzukehren, dann würde alles andere aufhören. Die komischen Rabengeschichten, die Kriege, die Verwandlungen, all das, was Puja und Wenslaf nie glauben würden. Wenn sie aber dieses Leben wegwarf, dieses und das nächste, eins nach dem anderen, ohne irgendwo anzukommen oder jemand zu sein – was sollte dann aus ihr werden?
Puja und Wenslaf hatten ihr beigebracht, gut auf sich aufzupassen. Sie hatten ihr aber noch etwas anderes beigebracht: nämlich dass die anderen genauso wichtig waren wie man selbst. „Jeder fühlt was“, hatte Puja gepredigt, „nicht nur du.“ Und Wenslaf hatte erklärt: „Alle Menschen sollen es gleich gut haben, das nennt man Gerechtigkeit. Niemand darf auf den Rücken der anderen herumtanzen.“ Aber genau das tat Elsa seit Jahren. Ob freiwillig oder unfreiwillig, sie tanzte auf den Leibern von unzähligen Toten herum und ein Ende war nicht in Sicht. Wenn Elsa ihr Leben mit den Augen ihrer Eltern betrachtete, vernünftig und selbstlos, dann blieb in dieser schwarzen Nacht nur ein Schluss übrig: Sie musste morgen gezielt in das Schwert eines tapferen Ausgleichers laufen, um ihr schuldbeladenes Leben auszuhauchen. Kein Rabe, keine Rabenkriege. Lange hatte sie sich um diese Erkenntnis gedrückt, aber jetzt ging es nicht mehr. Immerhin: Gaiuper würde sich über ihren Tod unglaublich ärgern. Das war das einzig Schöne daran. Dann käme das große Vergessen. Die Ahnungslosigkeit. Völlig arglos würde sie im nächsten Leben in die Arme des ersten Rabendieners, Ausgleichers oder Möwenkriegers laufen, der ihr begegnete. Sie wünschte, sie könnte ihre Erinnerungen mitnehmen. Aber auch hierfür hatte Puja einen Spruch gehabt: „Wünschen tut man im Märchen“, hatte sie gesagt, „im richtigen Leben wird geackert.“
Elsa zweifelte an ihrem Knotenkalender, als sie am nächsten Morgen als eine der letzten in Sommerhalt eintraf. Sie dachte, es sei Frühling, doch zu dieser frühen Stunde war es schon ungewöhnlich warm. Die Vögel sangen aus vollem Halse und überall auf der Wiese am Waldrand blühten Blumen. Elsa hatte keine Gelegenheit, jemanden nach der Jahreszeit zu fragen, in all den Kriegsvorbereitungen. Es war ja auch nicht wichtig, zumal sich Elsa vorgenommen hatte, in dieser Schlacht ihr Leben zu verlieren. Dass sie diesen Plan mit Feuereifer in die Tat umsetzen wollte, das konnte sie nun nicht behaupten, schon gar nicht an so
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