Rabenschwärze: Das Mädchen aus Istland (German Edition)
der Unendlichkeit trennen würde, sobald sie sich darin verfing. Die anderen Möwen zögerten nicht, es Sistra nachzumachen. Zwischenraumfesseln, dick wie Seile und dünn wie Fäden, wurden in Elsas Richtung geschleudert. Sie ließ sich gerade noch rechtzeitig fallen, zwischen all den Fäden hindurch, um in Gestalt einer Maus zu Boden zu plumpsen und so dem Schicksal des Käfigs oder des Verfahrens zu entfliehen. Zwischen den Füßen der Möwen hindurch flitzte sie in das dunkle Zimmer, in dem sie sich schon zuvor versteckt hatte und entdeckt worden war.
Sich dort zu verkriechen, hätte ihre Gefangennahme nur herausgezögert. Außerdem war sie getrieben von Wut. Sie verwandelte sich in einen Menschen zurück und prüfte den Inhalt der Werkzeugregale. Gegen die Zwischenraumfäden der Möwen kam sie nicht an, zumindest nicht mit Rabenkräften, die versiegten, sobald sie von einer Möwe angefasst wurde. Ihr Blick fiel auf ein rostiges Beil und eine Art Schraubenzieher mit einem sehr spitzen Ende. Das war etwas Handfestes. Man musste keine Rabenkräfte besitzen, um damit Schaden anzurichten, vor allem wenn man bei den Schlägern einen soliden Unterricht im Hauen und Stechen genossen hatte. Elsa nahm das Beil in die rechte, den Schraubenzieher in die linke Hand und erwartete ihre Gegner. Es kam ihr gerade recht, dass sich Edon Weiss in den Vordergrund drängte, die kräftigen, mit flimmernden Schnüren umwickelten Arme ausgestreckt, um sie wieder in seine Gewalt zu bringen. Es bekam ihm schlecht.
Mit dem spitzen Schraubenzieher stach Elsa zuerst zu. Sie zielte auf eine empfindliche Gegend und nutzte die Atempause, die ihr Edons Aufschrei verschaffte. Schon holte sie mit dem Beil aus und rammte es dem verhassten Mann in den Schädel. So rostig war die Klinge, dass das Beil auf halbem Wege im Kopf stecken blieb. Noch während Edon sie anstarrte mit halb gespaltenem Schädel, überrascht und empört zugleich, wurde ihr klar, dass sie etwas Unrechtes getan hatte. Ganz deutlich hörte sie die Stimme ihres Vaters Wenslaf, der sie früher bei ähnlichen, harmloseren Gelegenheiten beiseite genommen hatte. ‚Auch wenn dich dieser Junge an den Haaren gezogen hat’, hatte er ihr ins Gewissen geredet, ‚und dir das Bein gestellt hat, obwohl du ihm nichts getan hast, so darfst du ihm trotzdem nicht deinen Atlas über den Kopf schlagen! Schon gar nicht mit einer solchen Heftigkeit, dass die Lehrerin sich gezwungen sieht, einen Krankenwagen zu bestellen. Was, wenn der Junge nicht mehr aufgewacht wäre?’
Edon Weiss wachte bestimmt nicht mehr auf. Seine Augen, die sie immer noch anstarrten, wurden glasig und dann sackte er, mit einem Beil im Kopf und einem Schraubenzieher im Schritt, zu Boden. Sein Niedergang ging in einem Moment der Stille vor sich, weder Elsa noch ihre Gegner bewegten sich, zu erschrocken waren sie über Edons plötzlichen Tod.
Gleichzeitig wusste Elsa, dass ihr nur dieser Moment blieb, um eine Entscheidung zu treffen. Da sie den Kampf, der ihr nun bevorstand, fürchtete, ergriff sie die Flucht, spontan und ohne weiter zu überlegen, was dazu führte, dass sie abermals zu einer Motte schrumpfte. Nebelhaft und richtungslos wurde ihr Bewusstsein und sie folgte nur dem Instinkt der Motte, als sie den großen Schatten und ihren seltsamen Bewegungen auswich, die ihr aus irgendeinem Grund nicht geheuer waren. Sie flog in die dunkelste Ecke, ließ sich zu Boden fallen und krabbelte, immer wieder flatternd, umher, die Erschütterungen spürend, die die Menschen, die wild umherliefen, hinterließen. Als sie ein Gitter im Boden fand, kletterte sie hindurch, gleichzeitig ein Käfer werdend, der an der feuchten Decke eines Abwasserrohrs entlangzulaufen vermochte. So lief sie immer weiter, fand im Laufen Ruhe und im begrenzten Gedächtnis des Käfers Frieden. Es hätte immer so weitergehen können, wäre sie nicht schließlich von einem Wasserschwall erfasst und in schrecklicher Geschwindigkeit durch die Dunkelheit gespült worden. Der Käfer wusste kaum, wie ihm geschah, er ließ sich einfach treiben, bis er ins Freie gespuckt wurde, in ein breites, dunkles, stinkendes Becken unter dem Nachthimmel, in dem sich die Sterne spiegelten. Hier schwamm er noch eine Weile auf dem Rücken herum, bis er gegen eine Mauer prallte, an der er Halt fand. Er kletterte sie hinauf.
KAPITEL 12
Der Morgen graute, als Elsa sich am Rand eines Abwasserbeckens wiederfand, in erbärmlichem Zustand, nass und stinkend, schäbig innen wie
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