Rabenschwärze - Der Grubenmann (German Edition)
Den Herrn kümmerte weder das Essen noch die Soße, die Elsa ihm reichte, und auch der Bürgermeister war ihm gerade egal. Für einen Augenblick außerhalb der Zeit hatte ihn die Liebe eingeholt.
Den Rest des Tages stürzte sich Elsa in die Arbeit. Trotzdem schoss es ihr immer wieder durch den Kopf: Sie musste die Ganduup abschütteln. Nur wie sollte sie Geister loswerden, von denen sie nicht mal wusste, wie sie auf ihre Spur gekommen waren? Als sie spät am Abend in ihr Bett kroch, war sie kein bisschen klüger. Sie löschte die Kerze neben ihrem Bett, lauschte Helgis’ Abendgebet und wünscht dieser eine gute Nacht. Dann wanderten ihre Gedanken nach Sommerhalt. Nach Schloss Hagl, das es nicht mehr gab. Früher, als Elsa noch Agnes gewesen war, da hatte sie lauter Verstecke an diesem Ort gehabt. Eins davon hatte sich in den Gärten befunden, die später beim Angriff der Rabendiener zerstört worden waren. Dort, wo drei Hecken aneinander stießen, war ein Hohlraum entstanden, eine kleine Laube, die nur zu erreichen war, indem man unter einer der Hecken hindurchkroch. Der Ort darin war schattig und grün und Agnes konnte zwischen den kleinen Blättern hindurch nach draußen spähen, ohne selbst gesehen zu werden. Hier fühlte sie sich sicher.
Das Versteck in den Hecken war ihr Geheimnis, nicht mal Ulissa hatte sie davon erzählt. Umso überraschter war sie gewesen, als eines Abends, als die Schatten schon sehr tief geworden waren, ein Mann in der Laube auftauchte. Agnes hätte nicht mal sagen können, wie er zu ihr hereingekommen war. Er stand nur plötzlich gebückt vor ihr, ein Mann mit Glatze und einem weißen Bart, angezogen wie ein Kaufmann oder ein wohlhabender Handwerker. Elsa betrachtete das Bild in ihrem Kopf. Sie ahnte, dass alles noch schwieriger werden würde, wenn sie den Mann zu Wort kommen ließ. Aber sie konnte es nicht verhindern. Die Erinnerung hatte sich längst in ihr Bewusstsein gedrängt. Es stand nicht in ihrer Macht, sie willentlich zu vergessen.
„Keine Angst, Angais“, sagte der Mann zu der Siebenjährigen, die sie damals gewesen war. „Ich bin ein Rabe, genauso wie du. Darf ich ein bisschen neben dir sitzen und mich mit dir unterhalten?“
Seine Frage überraschte Agnes. Nicht nur, weil er ihren richtigen Namen verwendet hatte, sondern auch, weil er kundrisch mit ihr sprach.
„Bist du von zu Hause gekommen, um mich zu holen?“, fragte sie hoffnungsvoll.
Er schüttelte den Kopf.
„Ich bin genauso hier gestrandet wie du.“
Er sah, dass sie ihm vertraute und nichts gegen seine Anwesenheit einzuwenden hatte. Daher setzte er sich zu ihr in die Schatten, was ihm nicht leicht fiel, weil er schon so alt war. Doch als er es sich erst mal bequem gemacht hatte, gab er einen Seufzer von sich und sagte:
„Ein schönes Plätzchen hast du dir hier gesucht.“
„Kommen wir nach Hause, wenn wir sterben?“, fragte Agnes.
Er schaute sie an und dachte nach.
„Möglich wär’s, nicht wahr? Wer kann das schon sagen?“
„Ulissa sagt es.“
„Nun, die muss es ja wissen“, murmelte er.
„Ich will nach Hause“, sagte Agnes.
„Dann solltest du es vielleicht ausprobieren“, erwiderte der Mann. „Ich möchte dich sogar darum bitten. Es mag dir merkwürdig erscheinen, aber tatsächlich bin ich deswegen hier. Ich muss dich inständig darum bitten, dass du dein jetziges Leben hinter dir lässt und vergisst. Wir hören nie auf, das weißt du. Wir vergessen nur und werden an einem anderen Ort wiedergeboren.“
Das sagte er entschuldigend. Ihm war bewusst, dass er sie aufforderte zu sterben. Sie fand das nicht so schlimm. Sie hatte ja selbst schon darüber nachgedacht.
„Ich habe eine giftige Pille. Mit der stirbt man ganz leicht, sagt Ulissa.“
„Umso besser.“
Sie schwiegen eine zeitlang. Der Himmel wurde gelbgrau und das Licht, das eben noch auf einzelnen Blättern der Heckensträucher geschimmert hatte, verschwand.
„Ich will dir erklären, Angais, warum ich dich um deinen Tod bitten muss“, sagte der Mann endlich. „Es hat sehr viel mit der Zukunft zu tun. Ich sehe einzelne Augenblicke der Zukunft. Ich sehe sie ganz deutlich, aber was sie zu bedeuten haben, das weiß ich nicht. Ich sehe immer wieder dich in dieser Zukunft. Schlimme Dinge werden geschehen. Du wirst leiden. All diese Augenblicke, die ich sehe, werden dazu führen, dass eines Tages alles aufhört. Dahinter sehe ich nichts. Eine Zukunft nach diesem Zeitpunkt gibt es nicht mehr. Verstehst du, wie ich das
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