Rabenschwärze - Der Grubenmann (German Edition)
wenigstens verhindern könnte, dass der Krieg die friedlich vor sich hin schlummernde Helgis einholen würde. Wenn Elsa morgen ging oder übermorgen, dann hörten die Ganduup vielleicht auf, sich mit dieser Welt zu beschäftigen. Ob es klappte, würde Elsa allerdings nie erfahren, denn sie durfte nicht zurückkehre, um nachzugucken. Wohin sollte sie bloß als nächstes gehen? Wem sollte sie Unglück bringen? Bevor alles unterging?
„Migrall!“, rief Helgis eine dunkle Ewigkeit später. „Wenn du dich noch länger so im Bett hin- und herschmeißt, schlafe ich bis morgen nicht mehr ein!“
„Ist gut, ich gebe mir Mühe.“
Kurze Zeit war es still, dann fragte Helgis mitfühlend:
„Ist es wegen ihm?“
„Nein. Es ist mehr der Krieg.“
„Ach, wenn es bloß das ist“, sagte Helgis. „Bis hierher kommt er nicht. Da bin ich mir sicher!“
„Hoffentlich hast du recht“, erwiderte Elsa.
„Natürlich. Jetzt schlaf gut!“
Doch Elsa schlief nicht. Der Versuch, still zu sein, um Helgis nicht noch mal zu wecken, bewirkte, dass es sie innerlich kitzelte und juckte, bis sie es nicht mehr aushielt. Sie schlug die Decke zurück, stand auf und schlich aus der Kammer. Dort zog sie sich eine warme Jacke über und kletterte durch eine Luke aufs Dach. Unter einem bewölkten Himmel ohne Sterne saß sie, bis es langsam hell wurde. Als die Hähne in der Nachbarschaft krähten, wusste sie, dass sie die Erwartungen der Köchin und der Waschfrau erfüllen musste, indem sie auf- und davonlief. Jetzt, an diesem Morgen. Sie zog sich an, suchte ihre wenigen Sachen zusammen und entschied, dass der Zwischenraum der einzige Ort war, an dem sie fürs Erste kein Unheil anrichten würde. Wenn sie Glück hatte, würde sie das Haus im Wald finden, im blinden Winkel, den Nikodemia im Zwischenraum entdeckt hatte. Wenn sie noch viel mehr Glück hatte, würden er und Morawena dort sein.
„Migrall, gehst du aus?“, fragte Helgis, die gerade mit ihrem Nachttopf aus dem Garten zurückgekehrt war.
„Ja“, antwortete Elsa, „und zwar für länger. Erwarte mich nicht zurück.“
„Warum? Wo willst du hin?“
Elsa blieb ihr die Antwort schuldig. Sie lief die Treppen hinab bis zur Haustüre und öffnete sie. Normalerweise wäre es ihre Aufgabe gewesen, die Milchkannen hereinzuholen, die dort standen. Doch sie überließ die Milchkannen ihrem Schicksal und rannte in Richtung Stadtmauer davon.
Sie musste feststellen, dass sich der Zwischenraum verändert hatte. Nicht in seiner Natur, aber er sah anders aus: fleckig, mitgenommen und nicht so wie früher. Immer mal wieder fehlte etwas, alles machte einen Eindruck von Niedergang. Wie bei einem Herbst, der zu lange dauerte, oder einem Mottenfraß, der nicht mehr erkennen ließ, was ihm zum Opfer gefallen war. Elsa fragte sich, ob es an ihr lag oder am Zustand der Welten. Waren die Ganduup eine Krankheit, die selbst vor den Lücken im Universum keinen Halt machte? Es gefiel Elsa gar nicht, aber da sie sich in keine irdische Welt traute, blieb sie und wanderte, richtungslos. Ab und zu hörte sie Geräusche, die auf die Anwesenheit von Möwen schließen ließen. Scharren, Flüstern und Kratzen. Dann war sie besonders aufmerksam und wich in einem Bogen aus, wobei sie große Vorsicht walten ließ, um in keine Falle zu laufen.
Nikodemias versteckter Winkel im Zwischenraum war mittlerweile ein dunkles Loch, eine schmierige, vermoderte Landschaft im Zwielicht, falls Elsa keinen Fehler gemacht hatte. Da war ein Wald, aber verkommen. Von Flechten und Pilzen überwuchert, von Dämmerung durchdrungen. Einmal stieß Elsa auf eine Lichtung. Doch dort, wo sie ein Haus zu finden hoffte, war nur eine Grube, die voll Wasser gelaufen war. Rostige Gerätschaften versanken darin. Die Baustelle war verlassen und Elsa hoffte sehr, dass es sich nicht um den Ort handelte, nach dem sie gesucht hatte.
Danach gab sie auf. Von Morawena und Nikodemia hatte sie keine Spur entdeckt und sie war sicher, sie würde sie nicht mehr finden. Mittlerweile mussten zwei Wochen oder mehr vergangen sein, zumindest vermutete sie es. Sie spürte, dass ihr Wirklichkeitsgefühl sehr nachgelassen hatte und sie in Gefahr schwebte. Sollten die Alpträume wieder Gestalt annehmen, dann würde keiner da sein, um sie zu retten. Daher ließ sie den Aeiol fast gar nicht mehr los. Sie umschloss ihn die ganze Zeit, mal mit der Linken, mal mit der Rechten, und wenn sie schlief, dann drückte sie ihn mit der Hand gegen ihr Gesicht. Wann immer
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