Rabenschwärze - Der Grubenmann (German Edition)
verbracht hatte. Der Baum, unter dem sie gesessen hatte, als Anbar zu ihr gekommen war, stand nicht mehr da. Er war gefällt worden, ebenso wie alle anderen Bäume an diesem Ort. Aus der lieblichen Terrasse war ein kahler Platz mit trockenen Brunnen geworden. Da es keine Bänke mehr gab, stieg Elsa auf eine Mauer. Der Ausblick war bestürzend.
Als hätte ein riesiges Monster die halbe Stadt aufgefressen, hingen ihre Überreste verwüstet am Berg. Unten in der Ebene war alles schwarz und umgepflügt. Ein Matrosenviertel oder irgendwelche andere Behausungen gab es dort nicht mehr. Durch die verbrannten Überreste quälte sich der Fluss, die schwarze Schlacke mit sich reißend und dadurch ausgebremst. Hier und da trat der Fluss über die Ufer und bildete schlammige Teiche und Seen. Dort, wo früher Wiesen gewesen waren und Felder, lagerten riesige Heere. So weit es Elsa erkennen konnte, bedeckten ihre Zelte die ganze Ebene. Was sie da unten machten, worauf sie warteten, wusste Elsa nicht. Immerhin war Brisa erst zur Hälfte aufgefressen worden. Teile der höher gelegenen Mittelstadt hatten den ersten Ansturm überlebt und die besseren Wohngegenden auf den Hügeln schienen unversehrt. Sie hatten eine Schonfrist bekommen. Die Feinde waren noch da, die Bewohner der Stadt nicht mehr, zumindest sah Elsa keinen einzigen Menschen. Die Kanäle und der Rathaus-See waren leer gepumpt, fast alle Laternen gelöscht bis auf wenige, die ein Notlicht verbreiteten.
Es war Herbst, der Sommer noch nicht lange vorbei. Die Luft war zu warm für diese Jahreszeit, drückend und schwül . Einige wenige Holunderbüsche am Mauerrand, die dem Kahlschlag entgangen waren, trugen blauschwarze Beeren, als wäre nichts. Die Überreste eines Lavendelbeets dufteten. In ihren Duft mischte sich der Geruch von Verbranntem. Es war windig und die Luft trug die Asche aus der Ebene überallhin. Als Elsa sich den Schweiß von der Stirn wischte, hatte sie eine schwarz verschmierte Hand. Sie zog ihre Jacke aus, da ihr zu warm war, und ließ sie auf der Mauer liegen. Sie brauchte sie sowieso nicht mehr. Dann kletterte sie von der Mauer auf den tiefer gelegenen Spazierweg hinab und wanderte hinauf zum Haus der Relings.
Unbehelligt kam sie zum Gartentor, das offenstand. Im Park waren keine Bäume gefällt worden. Die jungen Bäume, Büsche und Blumen, die vor bald sechs Jahren neu gepflanzt worden waren, standen noch unversehrt da. Ab und zu wurden sie vom Wind geschüttelt. Elsa sah zum Himmel empor, erkannte aber weder Sterne noch Wolken. Sie spürte, dass ein Gewitter kommen würde, die warme Luft kündigte es an, und die Windstöße waren seine Vorboten.
Das Haus stand still und dunkel am Ende des Kiesweges. Nur in einem Zimmer brannte Licht, doch dort waren die dicken Vorhänge zugezogen. Schwach und rötlich drang das Licht durch die Ritzen. Elsa ging über den Kies und die große Treppe hinauf, bis sie vor der Haustür stand. Die Tür war unverschlossen, sie ließ sich von Elsa aufdrücken. Das Innere des Hauses wirkte verlassen und lag in fast völliger Düsternis. Einzig ein kleines Windlicht brannte auf einer Stufe im Treppenhaus. Es sah Amandis ähnlich, ein Licht aufzustellen, das so verloren aussah, dass es die Dunkelheit nur noch sichtbarer machte statt sie zu vertreiben. Elsa stieg über das Licht hinweg, lautlos, wie sie hoffte, denn auch das kleinste Geräusch würde in dieser leeren Stille auffallen. Als sie den zweiten Stock erreichte, ging sie zur Tür des Schlafzimmers, in dem sie einmal geschlafen hatte. Zu Lians Zimmer. Die Tür war nur einen Spalt weit geöffnet. Elsa schob sie auf und sah Amandis, wie sie am Tisch saß, den Kopf in die Hände gestützt. Ihr langes Engelshaar war zu einem Zopf geflochten und am Kopf zu einer Schnecke gewunden. Sie trug Reisekleidung und neben ihr standen zwei große gepackte Taschen. Sie weinte nicht, sie saß nur regungslos da und starrte zwischen ihren Fingern hindurch auf die Tischplatte. Elsa klopfte sachte an die Tür, obwohl sie schon längst im Zimmer stand.
„Elsa?“, rief Amandis, als sie den Kopf drehte und ihren Gast erblickte. Einen Gast hatte sie erwartet, doch nicht diesen hier. Elsa sah ihr an, dass sie schon eine Menge geweint haben musste, aber das lag nun hinter ihr. Jetzt war Amandis nur noch bleich. Ihre Augen, unter denen blaue Schatten lagen, waren wie ausgetrocknet.
„Du darfst gar nicht hier sein“, sagte Amandis.
„Nein, ich gehe auch gleich wieder.“
Elsa trat an den
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