Rabenschwärze - Der Grubenmann (German Edition)
klangen noch in der Luft, aber derjenige, der sie ausgesprochen hatte, war verschwunden. Spurlos. Er ließ nicht das winzigste Loch in dieser Welt zurück. Für so einen Abgang hätte Elsa wesentlich mehr Zeit gebraucht. Nicht mal die Kerzen hatten geflackert. Der dreibeinige Sessel, auf dem Carlos gesessen hatte, war leerer als jeder andere Stuhl in diesem Raum. Alles, was Elsa hörte, war der Regen, der außerhalb des Kinos auf den Gehweg prasselte.
KAPITEL 43
Elsa starrte noch lange dorthin, wo Carlos eben noch gesessen hatte. Dann dachte sie, dass sie die nächsten drei Wochen nicht so sitzen bleiben konnte, und rutschte vom Tresen hinab. Kaum stand sie wieder auf ihren eigenen Beinen, stellte sie fest, dass ihre eigenen Beine sich wie fremde Beine anfühlten oder wie Beine, auf denen sie seit Monaten nicht mehr gestanden hatte. Sie kratzte sich das erkaltete Wachs von ihrer rechten Hand und suchte nach einer Kerze, die man gut tragen konnte. Sie fand ein Exemplar, das Carlos in einem Aschenbecher mit Griff verankert hatte. Mit der machte sie sich auf den Weg in die Dunkelheit, allerdings mit einem Ziel vor Augen. Der Messingknauf der Tür, die in den Kinosaal führte, warf das Kerzenlicht zurück. Als Elsa ihn erreicht hatte, drehte sie ihn herum und spürte, wie die Tür nachgab.
Ein vertrauter Geruch kam ihr entgegen. Die hölzernen Kinoklappstühle, der muffige Teppichboden, der schwerelose Staub, den man normalerweise im Projektorstrahl schweben sah – all das drängte sich in Elsas Wahrnehmung und machte ihr das Herz schwer. Nur das Leuchten der Leinwand fehlte. Sie kam an den Sitzen vorbei, die sie und Urslina immer belegt hatten. Gleich am Rand, denn Urslina trank vor jeder Vorstellung so viele Limonaden und Milchshakes, dass sie während des Films dreimal aufs Klo musste. Diesen Weg trat Elsa nun auch an, vorbei an allen Kinoreihen, zu der kleinen Tür rechts, die normalerweise beleuchtet war, aber jetzt im Dunkeln lag. Auch im Inneren ging kein Licht an, als Elsa auf den Lichtschalter drückte. Der Strom war komplett abgeschaltet und in der Toilette war es kalt. Aber Elsa hatte ja eine Kerze dabei, die sie ins Waschbecken stellte.
Am liebsten hätte sie zu denken aufgehört. Es klappte aber nicht, die Gedanken boxten gegen die Tür ihres inneren Widerstands. Sie randalierten und stemmten sich dagegen und stiegen übereinander und fingerten an der Türangel herum – es war typisch für Elsas Gedanken, dass sie keinen Respekt hatten und sich ungebeten Einlass verschafften. Noch ein paar Minuten, dann würden sie mit der Tür und einem gewaltigen Schlag in Elsas Bewusstsein knallen. Bis es soweit war, starrte sie über sich ins Dunkel des Kinoklos und stellte sich vor, wie schön es wäre, wenn sie mit Anbar die letzten drei Wochen ihres Lebens verbringen könnte. Ungestört. Das wären die besten drei Wochen ihres Lebens. Das Problem, dass sie eines Tages ohne ihn weiterleben müsste, hätte sich dann auch erübrigt. Sie könnten beide gleichzeitig und für immer aufhören zu existieren, zusammen mit allen anderen Menschen und Welten. Was für ein Traum! Der selbstsüchtigste Traum, den sie jemals gehabt hatte.
Aber es würde sowieso nicht klappen. Selbst wenn der Weltuntergang in ewigen Stein gemeißelt wäre, besiegelt und unabänderlich und für jeden offensichtlich, würde Anbar dagegen ankämpfen. Er war einfach zu störrisch in derlei Angelegenheiten, er würde es nicht wahrhaben wollen und sich einbilden, dass er in der Lage wäre, ein Hintertürchen zu finden, durch das die Menschheit ins nächste Zeitalter flüchten könnte. Das Schlimme an der Sache war, dass sie den gleichen Tick hatte. Auch sie wollte es nicht wahrhaben. Auch sie wollte glauben, dass es einen Ausweg gab, einen verschlungenen Pfad, der durch Carlos’ Worte und Visionen hindurchführte und irgendwo herauskam, wo es wieder eine Zukunft gab. Sie wollte es glauben und auch wieder nicht, denn sie ahnte, dass so ein Pfad, wenn es ihn gab, durch die Hölle selbst führte. Einen solchen Pfad zu betreten, dazu hatte sie beim besten Willen keine Lust. Nein, sie wollte gar nicht darüber nachdenken. Sie wollte nur auf ihrer kalten Klobrille sitzen und glauben, dass das Ende der Welt nah war. Unvermeidbar. Carlos hatte es doch klar und deutlich gesagt.
Er hatte aber auch gesagt, dass Raben übermächtig werden, wenn sie verzweifelt sind. Verzweifelt war sie allerdings. Auch hielt er es für notwendig, ihr anzudeuten, dass sie
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