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Rabenschwarz

Rabenschwarz

Titel: Rabenschwarz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralf Kramp
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Erde liegen. Nicht er. Erst zweiundsechzig...« Sie kaute und schwieg.
    Kurioserweise spricht immer alles vom ›Alten‹. Glatte Fehlschätzung, würde ich sagen .
    »Und Sie haben immer Kontakt gehalten? Die Geschichte mit dem Krankenhaus liegt doch schon ein paar Jahre zurück, oder?«
    »Wie gesagt: Ohne den Paul wäre ich schon nicht mehr. Hat er denn niemals davon erzählt?« Die beiden schüttelten den Kopf.
    »Er hat immer nur von Raben erzählt. Bei uns war er der Raben-Päul«, meinte Fritz schulterzuckend.
    »Na eben! Die Raben, die Krähen, die Elstern und so. Das war es doch gerade!« Sie beugte sich verschwörerisch vor und holte tief Luft. Sie war im Begriff, eine ganz besondere Geschichte zu erzählen. »Ich war im Krankenhaus wegen dieser ... wegen dieser Wahnvorstellungen. Können Sie sich vorstellen, wie das ist, wenn man etwas sieht, was kein anderer sehen kann? Tag für Tag? Jahr für Jahr?«
    Herbies Augen weiteten sich. Diese Frage war ihm noch nie gestellt worden. Hätte jemand anders diese Worte gesprochen, jemand, der nicht gerade steinalt, Ehrfurcht einflößend und beeindruckend sachlich war, Herbie wäre vermutlich in prustendes Lachen ausgebrochen.
    Julius brach in prustendes Lachen aus. Er hielt sich seinen fetten Bauch und torkelte zum Schrank, lehnte sich mit dem Arm dagegen, begrub kichernd sein Gesicht in der Armbeuge, hörte nicht auf zu lachen und wandte sich wieder um. Das Lachen mündete in ein schnarrendes Kichern, und als er sich schließlich wieder in der Gewalt hatte, wischte er sich eine Träne aus dem Augenwinkel und murmelte:   Guter Witz .
    Die beiden Frauen musterten Herbie erstaunt, der fassungslos ins Leere starrte. Als er das merkte, riss er sich zusammen. »Nein, kann ich mir nicht vorstellen. Wen haben Sie denn gesehen?«
    »Was! Was haben Sie gesehen ... Ich habe Raben gesehen. Große, schwarze, flatternde Raben. Auf den Tischen, Stühlen, Bildern, an den Wänden ... Raben. Sie haben mich heimgesucht. In Scharen haben sie dagesessen und mit ihren Schnäbeln an meine Blumenvasen gepickt, mit ihren Klauen meine Tischdecken zerrupft, tagein, tagaus ...« Hastig schob sie sich wieder ein Eierplätzchen in den Mund. »Und dann kam Paul in die Klinik. Und Paul machte dem ganzen Spuk ein Ende.« Sie kicherte leise. »All die Ärzte haben immer versucht herauszufinden, wie mir zu helfen sei. Jedenfalls taten sie den lieben langen Tag so. Aber Paul war der Einzige, der es richtig angefasst hat. Er kam eines Tages in mein Zimmer, als die Raben da waren. Ich rief: ›Pass auf!‹ Er fragte: ›Wieso? Was ist?‹ Und ich erklärte ihm, dass ein ganzer Schwarm schwarzer Raben oder Krähen oder was weiß ich dasaß und bereit war, mit den scharfen Schnäbeln auf ihn loszugehen, wenn er weiter ins Zimmer käme. Und er hat nur laut gelacht, hat gesagt: ›Kommt her, ihr dreckigen Viecher!‹ und hat wild um sich gehauen. Er ist um mein Bett gewirbelt und die Wände entlanggefegt und hat das Fenster aufgemacht und sie hinausgetrieben. Mit Tritten und Schlägen und Fausthieben. Und dann waren sie auf einmal weg. Einfach so.«
    Fritz und Herbie hatten der alten Frau aufmerksam zugehört. »Er hat sie richtig verjagt?«, fragte Herbie staunend.
    »Oh ja, das hat er! Und dann hat er für mich dieses Heim hier ausfindig gemacht. Das einzig Richtige auf der ganzen Welt, wenn Sie mich fragen.«
    »Was macht es so passend für Sie?« Fritz sah sich um. »Es ist schön, aber ...«
    Die alte Frau Krechel erhob sich ächzend, schlurfte mühsam zum Fenster und winkte mit ihren knochigen Fingern. »Kommt mal her!«
    Folgsam erhoben sich Fritz und Herbie aus dem Sofa, und auch Julius war scheinbar neugierig geworden. Er folgte ihnen auf den Fuß.
    Die Alte öffnete das Fenster, so weit es ging. So hatten sie zu dritt Platz, um hinauszusehen. Nur Julius musste hinten stehen und bemühte sich, auf Zehenspitzen hüpfend, zu erkennen, worum es ging.
    »Hier habe ich einen hervorragenden Ausblick!« Zu ihrer Linken konnten sie gerade noch die Türme der Basilika am Rande der nächsten Hausecke erspähen. »Da unten ist der Friedhof«, erklärte sie mit ausgestrecktem Zeigefinger. »Das Ziel sollte man immer vor Augen haben.« Sie kicherte. »Aber das Wichtigste ...« Ihr Finger wanderte höher und wies auf den dicht bewaldeten Berghang auf der gegenüberliegenden Seite des Prümtales. »Da hinten, dieses Stück Wald, das ist ›die Held‹. Seht ihr diese Bäume dort?«
    In der Tat erkannten sie

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