Rabenschwarz
sie sich die Seele aus dem Leib geprobt hatten. Bei diesen Leuten gab es möglicherweise noch einen Ansatzpunkt, um hinter Rosis Geheimnis zu steigen. Da zählte keine Unterkühlung, da waren schrumpelige Finger nicht der Rede wert.
Seine erste Handlung vor einer Stunde, nachdem ihn das immer noch staunende Bauernpaar mit trockenen Klamotten versorgt hatte, war der Griff zum Telefon gewesen. Die Nummer des Pfarrhauses gaben ihm die Schlössers bereitwillig, obwohl sie keine Idee hatten, wie der Besuch des Herrn Pastor, der darauffolgende anonyme Anruf, der ihnen riet, in ihrem Milchkühltank einmal nach dem Rechten zu sehen, und das Auffinden des wildfremden jungen Mannes inmitten der gesammelten Milch aus etwa neunzig prallvollen Eutern in Zusammenhang zu bringen waren.
Frau Stoffels erklärte am Telefon verängstigt, dass der Herr Pastor noch immer nicht ins Pfarrhaus zurückgekehrt sei und dass ihre Sorge um ihn wuchs.
»Das kann sie auch getrost!«, hatte Herbie grimmig gedacht. »Wenn ich diesen Pfaffen zu fassen kriege, werde ich ihm Gelegenheit genug geben zu erfahren, was es heißt, in Milch eingelegt zu werden wie ein Kaninchen, das am nächsten Tag in den Topf wandert.«
Schwarz auf Weiß gewissermaßen , hatte Julius amüsiert hinzugefügt.
Werner stand am Tresen und mixte einen Cocktail, der mit jeder neuen Zutat auf beunruhigende Art und Weise seine Farbe änderte. »Tach, liebe Jung«, grüßte er fröhlich und musterte Herbies Begleiterin. Souverän ging er über Fritzens ungewöhnliches Äußeres hinweg und sagte: »Hinten durch ist noch ein Plätzchen.«
Marcel steckte den Kopf aus der Küchentüre und grinste Herbie an. »Neue Schuhe?« Betreten blickte Herbie nach unten und versuchte, die Hosenbeine möglichst flächendeckend über Bauer Schlössers zwei Nummern zu große, schwarze Riesentreter baumeln zu lassen, was ihm misslang.
Fritz ergriff das Wort und sprach die beiden auf die Theatergruppe an.
»Ach, die Chaoten«, meinte Werner und verdrehte die Augen.
»Die sind oben.« Marcel deutete mit dem Finger zur Decke, und Herbie und Fritz stiegen die Treppe hinauf. Auf halbem Wege begegneten sie der freundlichen Kellnerin, die ihre Bestellung aufnahm. Herbie befand einen steifen Grog für genau richtig angesichts seiner verfrorenen Konstitution. Fritz erbot sich, das Auto nach Buchscheid zurückzufahren.
Aus dem oberen Stockwerk, das aus zwei Zimmern und kurioserweise einer Dusche bestand und angefüllt war mit ollem Mobiliar und zahlreichen Dekorationsstücken, drang ihnen lautes Stimmengewirr entgegen. Die Theatergruppe tagte.
Fritz winkte fröhlich, als sie eintraten. Die jungen Leute grüßten gleichfalls freundlich zurück. Wie Fritz Herbie erklärt hatte, fanden sie sich hier ein, um sich am Vorabend der Aufführung von Dürrenmatts Physikern , wie sie es ausdrückte, »noch mal ordentlich die Kante zu geben«. Alle fieberten der Aufführung am morgigen Abend entgegen.
Fritz kannten sie aus dem Hotel, und es fiel nicht schwer, Kontakt herzustellen.
Vermutlich liebäugelt der Regisseur mit dem Gedanken, irgendwann Das Phantom der Oper auf die Bretter zu bringen, und er hält sich Fritz für die Titelrolle warm .
»He, Fritz! Kommst du morgen Abend auch?«, fragte ein Dicker mit albernem, rotem Kinnbart.
Fritz zog sich einen Stuhl hinzu und ließ sich nieder. Herbie tat es ihr nach.
»Ich fürchte, morgen Abend habe ich was Wichtiges vor. Wie lange wird es dauern?«
Der Regisseur faltete geduldig die Hände und sagte: »Wir beginnen um sieben, und wenn alles gut läuft, sind wir um halb zehn durch. Da aber nicht alles gut läuft, werden wir vielleicht gegen drei Uhr morgens den letzten Vorhang haben.« Er schlürfte an seinem Tee und murmelte: »Und woran das liegt, wissen wir ja alle.«
»Ich konnte meinen Text von Anfang an.«
»Jaaa, klar!« Der Dicke plusterte sich auf. »Jacqueline konnte ihren Text von Anfang an. Und meinen! Und den von Catrin! Und den von Haffner!«
»Haffner hat keinen Text, Haffner souffliert! Und das ist das Einzige, was mich hoffen lässt«, äußerte der Regisseur zischend.
Haffner war ein stoppelhaariger, schlanker Kerl mit Nickelbrille am anderen Ende des Tisches. »Weil ich so gut souffliere?«
»Nein, weil du dann nicht auf der Bühne zu sehen bist!«
Alles lachte.
Eine andere blonde Aktrice wandte sich unmittelbar an Fritz und Herbie. »Nein, aber im Ernst: Wir waren uns bis vor ein paar Tagen nicht schlüssig, ob wir
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