Rabenschwarz
Emotionen waren genauso gelähmt wie seine Arme, mit denen er dieser dämlich dreinblickenden Schnepfe jetzt am liebsten an die magere Gurgel gegangen wäre.
Strecker preschte aus seinem Versteck hinter einem Mauervorsprung hervor und raste die Treppe hinauf. Seine gesamte Kleidung war ein einziger Rotweinfleck. Splitter und Flaschenhälse hatten seine Hose zerrissen und zerfetzt, und ob ihm Blut oder Rotwein an Händen und Gesicht klebte, war nicht mehr auseinanderzuhalten.
Er hörte gerade noch, wie Faßbender einen bestialischen Schrei ausstieß, als er die Türe ins Schloss warf und den Schlüssel umdrehte. Wild entschlossen durchmaß er mit Riesenschritten den ersten Weinkeller und erreichte dann den Kellerflur des Hotels. Er kannte sein Ziel. Dieser Hoteldirektor hatte ihm gerade ungewollt mitgeteilt, wo Feldmann, alias Lohse, zu finden war. Er sah auf die rotweinverschmierte Uhr. Neunzehn Uhr! Frau Hellbrechts Hund schwebte in höchster Gefahr, und dieser Idiot spielte Theater!
Er eilte die Stufen des Treppenhauses hinauf und erreichte das rückwärtige Foyer. Die letzten Nachzügler des Theaterpublikums, die gerade an der Kasse abgefertigt wurden, musterten den übelriechenden, bärtigen Kerl verwundert, nickten sich lachend zu und freuten sich erwartungsvoll auf eine besonders moderne Inszenierung.
Strecker schoss in Windeseile hinter die Bühne und packte den Erstbesten, den er zu fassen kriegte. Thorben, der Dicke mit dem roten Bart, wusste gar nicht, wie ihm geschah. Bis vor zwei Minuten hatte er die Zeit zwischen Generalprobe und Aufführung auf der Toilette verbracht, wie er das immer zu tun pflegte, weil ihm am Premierenabend sein Magen zumeist einen Streich spielte. »Wo ist Herbert Feldmann? Lohse. Herbie ... Was weiß ich, wie ihr ihn nennt«, herrschte Strecker ihn an. Thorben schnappte nach Luft. Dies war der erste Säufer, dessen Alkoholfahne sich ihren Weg sogar unter den Achseln heraus- und aus den Kniekehlen hervorbahnte. Verstört deutete Thorben auf die blonde Frauenleiche auf dem Bühnenboden. Strecker stutzte, stürzte sich dann auf den reglosen Körper und riss die langhaarige Perücke herunter. Haffner quiekte auf. Strecker packte ihn an der Gurgel. »Wo ist Feldmann?«
»Herbie?«, röchelte Haffner. »Der musste dringend weg. Ich kann doch nichts dafür! Der musste plötzlich irgendwo anders hin. Ich kann doch wirklich nichts dafür!«
Rasselnd öffnete sich der Vorhang, und das Scheinwerferlicht blendete Strecker. Erschrocken ließ er den jammernden Haffner los und stürzte von der Bühne. Haffner nestelte seine Brille aus der Schwesternkluft hervor und setzte sie auf. Er blickte in das staunende Publikum, raffte seine Perücke vom Boden auf und dachte plötzlich nur noch an seine künstlichen Brüste und die Ohrringe. »Ich kann doch nichts dafür!«, jammerte er.
»Haffner!«, schrie der Regisseur.
Das Publikum war begeistert.
* * *
Nur für wenige Augenblicke riss die dichte Wolkendecke ab und zu auf und erlaubte dem Mond, einen erhellenden Schein zwischen den dicht gewachsenen Fichten hindurch auf die Stelle zu werfen, an der Herbie das Auto geparkt hatte. Der Wind war stärker geworden. Er ließ die Wipfel der hochgewachsenen Bäume im Gleichtakt hin und her schwingen. Der Wald war voller Geräusche, und ein paarmal hatten Herbie und Rufus den Eindruck, dass sich ein Tier vorsichtig näherte, um im nächsten Moment genauso geräuschlos wieder zu verschwinden.
Von Zeit zu Zeit hatte Rufus mit den Handflächen mechanisch ein paar Takte aus seiner Heimat auf der Seitenfläche des Geldkoffers intoniert.
Julius hatte begonnen, rhythmisch mitzuschnippen. Aber Herbie war nicht zu Späßen aufgelegt. Seine Nerven waren zum Zerreißen gespannt, und er wusste gar nicht, was ihn im Moment mehr beunruhigte: die Sache mit Fritz oder der bevorstehende Lösegeldaustausch, bei dem so vieles schiefgehen konnte.
Die Sache mit Fritz natürlich!
Julius hatte recht. Natürlich, da gab es keine Überlegung.
Sie saßen seit einer Viertelstunde in der Finsternis und redeten kaum. Es war Viertel vor acht, und Herbies Mut schwand. Wieso tauchte Richard nicht auf? Hatte er sich so verschätzt? War überhaupt seine ganze Theorie eine Menge Unsinn?
Lass dich trösten, mein Teuerster! Ich verstehe, dass du beginnst, an dir selber zu zweifeln, aber ich sage dir: Deine Vermutung ist die einzig richtige .
Dankbar blickte Herbie in den Rückspiegel, in dem gerade in diesem Moment ein Hauch von
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