Rabenschwestern: Kriminalroman (Ein Franza-Oberwieser-Krimi) (German Edition)
die Kinder, die kleinen Mädchen, die Schwestern, die noch keine Schwestern waren, aber es irgendwann irgendwie wurden, und sie hielten sich im Schlaf umarmt, waren sich Stütze, waren sich Halt, waren sich Last.
Ich habe jetzt eine Schwester , schrieb Gertrud in das rote Buch, das sie zum letzten Geburtstag bekommen hatte. Eine Schwester hat man für ein Leben. Meine Schwester heißt Hanna.
Es war schön, eine Schwester zu haben, eine, mit der man alles teilen konnte, jede Freude, jeden Schmerz. Es war schrecklich, eine Schwester zu haben, eine, mit der man alles teilen musste, jede Liebkosung von Mama, jedes gute Wort von Papa.
6 Tonio stand auf dem Hügel und beobachtete das Haus. Er schalt sich ein bisschen verrückt, dass er tat, was er tat, sie belauern, sie beobachten, aber er tat es trotzdem.
»Sie müssen aufhören damit«, hatte Gertrud gesagt, nachdem er sie zum dritten Mal angerufen und um ein Treffen gebeten hatte, »das führt zu nichts. Ich kann Ihnen nichts über Ihren Vater sagen. Ich hab ihn gekannt, ja, aber nicht besonders gut. Er ist tot, lassen Sie ihn ruhen, freuen Sie sich über das Erbe und leben Sie einfach.«
Aber er rief ein viertes Mal an. »Wenn Sie nicht aufhören, mich zu belästigen«, sagte sie da, »muss ich die Polizei informieren.«
Aber sie hatte die Polizei nicht informiert, das machte ihn sicher und noch dreister. Er verfolgte sie weiterhin, sprach sie auf der Straße an. Allmählich geriet sie in Panik, er merkte es, sie begann sich aufzulösen. Aber immer noch … keine Polizei.
Ich habe also recht, dachte er, mit dem, was ich spüre. Irgendetwas liegt in der Luft, irgendetwas … Böses von damals, als mein Vater noch gelebt hat. Und das, dachte er, will ich wissen. Will ich einfach wissen!
Vielleicht, dachte er, ist das sein Vermächtnis an mich, sein Geschenk. Vielleicht, dachte er, stürzt es mich ins Verderben, dieses Wissen, wenn ich es dann habe, aber … ich kann nicht anders, ich bin es ihm schuldig, meinem Vater. Ich bin es mir schuldig!
Nein, er konnte nicht anders, Tonios Sohn, der hieß und aussah wie sein Vater. Er hatte ihn nie gesehen, seine Mutter war für diesen Mann eine einmalige nächtliche Angelegenheit gewesen, nicht einmal eine Liebelei. Nichts gab es, was Vater und Sohn verband, nichts, nur diesen Namen und dass der eine aussah wie der andere. Wahrscheinlich war das ein Fluch und Gertrud hatte recht, er sollte sein Erbe genießen und Schluss. Einem solchen Vater war man nichts schuldig, absolut nichts.
Tonio erinnerte sich noch gut an jenen Tag vor wenigen Wochen, als er endlich den Brief des Notars von der Post geholt hatte. Ein Scheißtag war das gewesen, wieder war einer gestorben auf der Station, dann endlich Dienstschluss und zum Auto. Der Motor heulte auf, drüben am Teich stand Rasmus und rauchte, schaute in die Luft, sein Gesicht ausdruckslos, leer.
Arschloch, hatte Tonio gedacht, während er sich gleichzeitig über seinen Zorn wunderte, der absolut übertrieben war, bloß durch dieses dämliche Grinsen begründet, das Rasmus aufsetzte, sobald ihm Leute über den Weg liefen. Musste sich allem und jedem anbiedern, jedem blöd ins Gesicht grinsen, zusammendreschen müsste man ihn, halten müsste ihn einer und dann – volle Kanne!
Er kurvte vom Parkplatz runter, im Rückspiegel wurde Rasmus kleiner und kleiner und als Tonio ihn nicht mehr sah, tat er endlich, was er schon die ganze Zeit hatte tun wollen, er hielt den Mittelfinger hoch und fluchte lauthals durch die Frontscheibe und meinte gar nicht Rasmus allein, meinte alle, meinte die Welt, meinte die Einkaufstempel, die Fitness-center, die Unterrichtsmethoden, die Verkaufsgespräche, den Frieden, alles … und hoffte endlich auf Erleichterung und Ruhe und Befreiung, aber nichts dergleichen stellte sich ein, die Schatten blieben und der Regen, den sie den ganzen Tag schon angekündigt hatten, prasselte endlich vom Himmel, der Tag wurde finster vom Gewitter, verdüsterte sich, als ob die Welt untergehen wolle.
Als Tonio an der Ampel hielt, starrte er in ihr Rot, das am Himmel hing wie angeklebt, das ins Graue auslief, wenn er die Augen zusammenkniff, das seine Augen durchdrang und seinen Körper, während der Wind den Regen durchs offene Autofenster peitschte, und Tonio spürte das Kalte und Scharfe des Regens, das ihm ins Gesicht sprang, an die Arme, ins Hirn, und er wünschte, es wäre das Ende, und er wartete und wartete, aber es war nicht das Ende.
Wie aus weiter Ferne
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