Rabenschwestern: Kriminalroman (Ein Franza-Oberwieser-Krimi) (German Edition)
in einer Schublade. Ich könnte sie nie wegwerfen. Da stehen doch alle meine Liebesgeschichten von früher drin.«
»Hm«, machte Arthur, »das ist zweifellos nicht uninteressant, aber was willst du damit sagen?«
»Dass wir noch mal suchen sollten. Und zwar sehr gründlich.«
32 Lilli starrte die Wörter an, bis sie vor ihren Augen verschwammen. Immer wieder kehrte sie zu ihnen zurück, immer wieder. Sie ließen sie nicht mehr los, sie hielten sie in Bann, diese Wörter, die da in einem Monolog über die Seiten des Tagebuches hinflossen, einmal sprangen sie hierhin, einmal dahin, einmal schien alles voller Glück, voller Zuversicht, dann folgten Stürze in tiefste Traurigkeit.
»Ich werde nicht weiterstudieren«, hatte Lilli dem Großvater heute Mittag endlich gesagt, als sie sich in der Stadt getroffen hatten, »ich werde nicht in deiner Kanzlei arbeiten.«
Er hatte genickt, es zur Kenntnis genommen. Es war die Zeit, Dinge einfach hinzunehmen, zu akzeptieren, weil sie unausweichlich waren, das hatte er endlich erkannt.
»Ich habe Fehler gemacht«, hatte er gesagt und sich den Mund mit der Serviette abgewischt, »ich habe große Fehler gemacht.«
Sie fragte nicht nach. Fehler, ja, sie fragte nicht, was oder wen er meinte, Gertrud oder Hanna oder etwa sie, Lilli. Sie wollte es nicht wissen, sie hatte zu viel erahnt und zu viel erfahren in diesen letzten Wochen und Monaten, zu viel aushalten müssen, sie wollte nicht noch mehr wissen.
»Vielleicht«, sagte er und sie erkannte mit Staunen, dass seine Stimme brüchig geworden war, »vielleicht können deine Großmutter und ich eines Tages …«
Er brach ab. Ein alter Mann, dachte sie erstaunt, ist er geworden, ein alteralter Mann.
»Ja«, sagte sie, »vielleicht.« Er schaute sie dankbar an.
Sie dachte an den Brief, der im Schreibtisch ihrer Wohnung lag, ganz zuunterst, unter den Dokumenten, unter all den anderen Briefen, die in ihrem Leben Bedeutung hatten. Sie dachte daran, dass er schon lange da lag, dass sie ihn noch immer nicht geöffnet hatte und also immer noch nicht mit Sicherheit wusste, was sie schon lange zu ahnen glaubte. Der Brief war angekommen, kurz bevor sie nach England flog. Sie erinnerte sich, dass ihr Herz begonnen hatte, schneller zu klopfen. Sie wollte das Kuvert öffnen, langsam, vorsichtig, spürte ein nervöses Grummeln in der Magengrube, doch plötzlich ließ irgendetwas sie zögern und sie legte den Brief auf den Tisch zurück. Da lag er dann drei Tage, bis es Zeit war zum Flughafen zu fahren. Als sie die Klingel hörte und Gertruds Stimme: »Lilli Liebes, bin da! Wir müssen los!«, nahm sie endlich das Kuvert wieder zur Hand, dieses Papier, das ihre Finger zu verbrennen schien, und legte es in die Schublade. Zuunterst. Unter die Dokumente. Unter die Briefe, die in ihrem Leben wichtig waren. Nein, sie wollte nicht wissen, was darin stand, sie wollte der Wahrheit, wie immer sie war, noch nicht ins Gesicht blicken.
»Hier«, sagte sie draußen auf dem Gang, nachdem sie die Wohnungstür abgeschlossen hatte, »hier hast du meine Schlüssel. Bewahrst du sie auf?«
»Klar«, sagte Gertrud und steckte sie ein. »Ich schau alle zwei Wochen mal vorbei, ob alles in Ordnung ist.«
»Ja«, sagte Lilli, »mach das. Danke, Mama!«
Dann war sie nach London geflogen. Dann war sie zurückgekehrt und der Brief lag noch immer da, wo sie ihn hingelegt hatte, zuunterst in der Schublade, unberührt, ungeöffnet, ungelesen.
33 Kristin stand vor der Tür.
Der Schreck war Tonio in die Knochen gefahren, als es plötzlich geklingelt hatte, er war an die Wand zurückgetaumelt und hatte sich festhalten müssen. So schnell hatten sie ihn also gefunden? So schnell?
Es war unfassbar. Unvorstellbar unfassbar.
Wie in Trance spürte er, wie alles Blut in seinem Körper zum Herzen strömte, wie dieses zu pochen begann und zu pochen und zu pochen und es die Adern fast zerriss. Tonio hielt den Atem an, presste die Hand vor den Mund, aber das Klingeln hörte nicht auf. Schon wartete er darauf, dass sie »Polizei!« rufen würden und »Machen Sie die Türe auf! Wir wissen, dass Sie da sind! Das Haus ist umstellt! Sie haben keine Chance! Geben Sie auf! Sie können nicht entkommen!«, wie man das eben aus Filmen kennt.
Und tatsächlich begann jemand zu rufen. Laut. Ungeduldig. Dass es im ganzen Haus zu hören sein musste.
Aber es war keine barsche Polizistenstimme, es war eine Stimme, die er kannte, es war Kristins Stimme, und als er das erkannte, warf der
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