Rabenschwestern: Kriminalroman (Ein Franza-Oberwieser-Krimi) (German Edition)
meine Schwester, die ich nun habe, heißt Hanna.
Langsam wurde es draußen hell, es ging gegen Morgen. Lilli schlug das Buch zu, öffnete das Fenster, vertraut der Blick nach draußen, der Garten, die Bäume, die Zwetschgen, Marmelade in der Küche, auch das vertraut, vor drei Tagen erst hatte sie Gertrud geholfen, der Geruch, die Hitze, Gertrud am Ofen, verschwitzt und müde, aber auf seltene Weise froh.
Verzeih mir, Gertrud, dachte Lilli, verzeih mir, Mama, ich liebe dich. Ich habe dich immer geliebt, aber du bist so fremd gewesen, so fern, wie eine gläserne Puppe manchmal, wie die Gardinen, wenn du sie gewaschen und im Garten aufgehängt hast. Ich bin in die Gardinen gelaufen, sie flatterten um mich herum und klatschten mir ihre Nässe ins Gesicht, und so ist es, Mama, manchmal auch mit dir gewesen. Du hast mir deine Nässe ins Gesicht geklatscht, deine Panik, mich zu verlieren aus irgendwelchen Gründen, die ich nicht kannte und die mir Angst machten, Angstangstangst. Jetzt … weiß ich viel und noch immer nicht alles.
Franza, dachte Lilli über den Apfelstrudel gebeugt, Franza, du kannst mir auch nicht helfen. Keiner. Man muss sich selber helfen. Immer. Vielleicht, dachte Lilli, ist es der Apfelduft, den ich immer vermisst habe, vermischt mit Butter und Zimt, vielleicht. Vielleicht wäre es auch der Zwetschgenduft gewesen, vermischt mit Zucker und Zimt, und ich habe es nicht erkannt, aber jetzt … nicht mehr, kein Zwetschgenduft, nein, nie mehr.
Sie war irgendwann gegangen, hinausgestolpert, vorbei an der Küche, in der Tasche das rote Buch, hinein ins Auto, zurück in die Stadt, an die Donau, fiel ins Laufen, hetzte durch den beginnenden Morgen, ein Schatten, der sich selber suchte, sich in der Welt.
Als sie über das Wasser gebeugt den im morgendlich fahlen Mondlicht glitzernde Schemen ihres Gesichts sah, kam ihr Mageninhalt hoch, eine gewaltige Fontäne schoss aus ihrem Körper und ergoss sich im Wasser in ihr Gesicht, es zerfloss in tausend Wellen.
Später in ihrer Wohnung machte die Stimme auf dem Anrufbeantworter sie frösteln, die Stimme und der Satz, der sie vor fast drei Stunden aus ihrer Wohnung getrieben hatte, hinaus aus der Stadt und zu ihrem Elternhaus, zu Gertrud.
Nun flüchtete sie erneut vor der Stimme, vor dem Satz, vor dem roten Buch, flüchtete ins Bad unter die Dusche, vergaß Zeit und Raum, das Wasser rann heiß an ihr herunter, ihr Kopf fiel nach hinten, von den Haaren gezogen, alles war voller Dunst. Mit geschlossenen Augen hockte Lilli unter der Dusche, die Arme um ihren Körper geschlungen, als wollte sie ihn schützen gegen jede Unbill des Lebens, gegen jedes schreckliche Wissen, gegen jede schreckliche Ahnung. Als sie endlich herausstieg, war es, als erwache sie aus tiefem Schlaf.
Sie rieb ihre aufgeweichte Haut trocken, wand ihr Haar in ein Handtuch und ging hinaus zum Telefon. Auf dem AB immer noch Gertruds Stimme, verzerrt von Angst, verzerrt vom eigenen Entsetzen: »Ich habe etwas Schreckliches getan, Lilli, komm her, komm zu mir, Lilli Liebes, ich habe etwas Schreckliches getan.«
35 Es war einfach gewesen, Tonios Familiennamen herauszufinden, ein Anruf bei Renate Stockinger hatte genügt. Die Frau hatte wunderbarerweise ein bewundernswertes Gedächtnis. Aber das war’s dann auch schon mit den Wundern. Und mit dem Glück, denn sehr schnell stellte sich heraus, dass Tonio keine registrierten Nachkommen hatte, lediglich ein Vater war aufzutreiben, der war allerdings vor nicht allzu langer Zeit verstorben.
Na gut, dachte Arthur, als er sich seinen Frust von der Seele geflucht hatte und wieder ein wenig zufriedener war, dann lassen wir uns halt was anderes einfallen. Tonios alter Herr wird schließlich Nachbarn gehabt haben oder Freunde oder was auch immer, und irgendwer weiß doch immer irgendwas und bringt uns ein winziges Stückchen weiter.
Aber ganz sicher war Arthur sich nicht, vielleicht hatte er auch nur einen Hund gehabt, der alte Mann, oder eine Katze oder, noch schlimmer, einen Wellensittich. Vielleicht war er im Alter böse geworden und hatte sich alle Nachbarn vergrault.
Wir werden sehen, dachte Arthur und seufzte, wir werden wie immer sehen.
36 Felix seufzte auch. Abend, endlich! Heim zu Frau und Kindern! Morgen war auch noch ein Tag. Morgen würden sie Rabinsky vernehmen, den Ehemann, der ein winziges bisschen gelogen hatte, wie sie nun wussten. Dabei war es gar nicht so leicht gewesen, das herauszufinden. Die Freunde hatten dichtgehalten, entweder,
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