Rabenzauber
die Bibliothek denken sollen.
Mir ist nur nicht eingefallen, dass die Bücher gefährlich sein könnten.«
Ein Zauberer hätte den Tempel nie verlassen, ohne jedes Buch in Sichtweite mitzunehmen. Hennea war kein Zauberer, sie war ein Rabe. Alle Schatten waren Zauberer gewesen, also war sie auch nicht der Schatten. Nicht, dass Seraph wirklich glaubte, dass der Schatten so eng mit Lehr und Jes zusammenleben könnte, ohne dass einer der beiden sein wahres Wesen bemerkte.
Seraph hatte selbst nicht gewusst, dass sie sich wegen Tiers Beobachtungen immer noch Sorgen machte - doch sonst hätte sie sich wohl nicht so erleichtert gefühlt. Wenn Hennea wirklich alt war, wie Tier annahm, musste es dafür eine andere Erklärung geben.
»Was hast du gefunden?«
Statt zu antworten, reichte Hennea ihr das Buch.
Seraph setzte sich auf die Verandabank und öffnete den schlanken Band irgendwo. Auf der linken Seite befand sich die Zeichnung einer Lerche. Rechts gab es eine eng beschriebene Seite in einer Sprache, die ihr vage bekannt vorkam. Die Solsenti des Kaiserreichs sprachen etwas mehr als dreißig Dialekte von vier Sprachen - obwohl die meisten von ihnen die Allgemeine Sprache beherrschten. Seraph kannte einige dieser Sprachen, ein paar besser als andere, und konnte noch ein paar weitere lesen.
»Diese Sprache kenne ich nicht«, sagte sie.
Hennea nahm das Buch und begann vorzulesen. »Der Lerche ist gegeben, alles zu heilen und Herz und Kopf wieder in Ordnung zu bringen. Als Erstes gibt es vierzehn Dinge, mit denen alle Lerchen gesegnet sind: Süßer Atem für den, der Wasser eingeatmet hat. Blutstillung …«
»Das Lied der Weisungen?«, unterbrach Seraph sie. »Aber es ist doch verboten … entschuldige, das war dumm von mir.
Dieses Buch zeigt deutlich, dass es jemand niedergeschrieben hat. Aber wenn Volis das Lied der Weisungen hatte, warum verstand er dann nicht, was es mit den Weisungen auf sich hat?«
»Vielleicht konnte er es ebenfalls nicht lesen«, spekulierte Hennea. »Oder er hielt das Lied für falsch - er glaubte schließlich auch, dass wir uns irrten. Und die Niederschrift des Lieds ist unvollständig - nur Lerche, Kormoran und Rabe werden erwähnt, und auch über sie wird nur teilweise berichtet. Der Rest ist ein wildes Durcheinander von Reisendenlegenden.«
»Sollen wir es zerstören?« Es widerstrebte Seraph irgendwie, so etwas zu tun; es war ein wunderschön gebundenes Buch.
»Nicht, bevor ich dem Barden die Legenden vorgelesen habe«, räumte Hennea ein. »Er sollte die Geschichten kennen und sie an die nächste Generation weitergeben. Aber wir alle - du, ich und deine Familie - sollten den gesamten Tempel noch einmal durchkämmen. Wir können nach dem Schatten suchen und auch nach weniger offensichtlichen Gefahren als besudelten Stellen.«
Am nächsten Morgen brachen sie früh auf und ließen Gura zurück, um den Hof zu bewachen. Jes wollte nicht ins Dorf zurückkehren und murrte den ganzen Weg nach Redern. Er mochte größere Ansiedlungen nicht. Aber als Seraph ihm sagte, er könne auch zu Hause bleiben, gefiel ihm das noch weniger. Sie behielt ihn gut im Auge, aber der Hüter schien fest zu schlafen. Rinnie hüpfte neben ihrem mürrischen älteren Bruder einher und versuchte, ihn zu einer besseren Laune zu bewegen.
Hennea führte sie an - überwiegend, dachte Seraph, um Jes fernbleiben zu können. Lehr ging neben Seraph her und reichte ihr den Arm. Zu den Dingen, die Brewydd ihm beigebracht
hatte, gehörte auch mehr Höflichkeit gegenüber seiner Mutter. Seraph hätte am liebsten gelächelt, aber sie nahm sich zusammen und legte die Hand in seine Ellbogenbeuge.
Die Rederni grüßten sie, als sie die Serpentinenstraße entlanggingen, überwiegend mit schüchternem Lächeln und abgewandtem Blick. Als Hennea direkt zum neuen Tempel gehen wollte, packte Seraph sie am Ellbogen.
»Wir müssen erst mit Karadoc reden. Das hätte ich schon tun sollen, als er noch bei uns zu Hause war, aber ich habe nicht daran gedacht. Ellevanal hat mir erzählt, er habe Karadoc benutzt, um die Rune des Schattens zu zerstören. Der Priester weiß vielleicht etwas, was uns helfen könnte. Und ich möchte auch bei der Bäckerei haltmachen und Tier sagen, was wir tun.«
»Ellevanal?« Hennea blieb sofort stehen und starrte Seraph an. »Du glaubst, dass ein Gott den Priester Karadoc angeleitet hat?«
»Das sagte er mir jedenfalls.«
»Der Priester?«
»Ellevanal«, warf Lehr mit einem dünnen Lächeln ein. »Hat
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