Rabenzauber
hatte nicht ohne sie dort bleiben wollen. Jetzt achtete er nicht auf sie, sondern starrte nur zu Boden und wirkte irgendwie zerstreut.
»Wenn man ein verrenktes Gelenk zu lange verbindet, verdirbt man das Gelenk«, sagte Lehr.
»Was?« »Ich meine damit«, begann Lehr zu erklären, »wenn Jes niemals ins Dorf kommt, wird er es bald überhaupt nicht mehr tun können.«
»Jes«, sagte Seraph und berührte den Ärmel ihres Sohnes.
Er blickte ruckartig auf.
»Musst du nach Hause gehen?«, fragte sie. »Sind die Leute zu viel für dich?«
»Nein, Mutter.« Jes schüttelte den Kopf. »Es geht mir gut. Heute sind alle so aufgeregt, dass es sich anfühlt, als hätte ich Bienen im Kopf. Aber wir denken, es wäre nicht gut, euch in dem neuen Tempel allein zu lassen.«
Er sagte »wir«, wie es der Priester zuvor getan hatte. Lehr wollte etwas sagen, aber Seraph hielt ihn mit erhobenem Zeigefinger auf, damit sie ihre ersten, noch vagen Gedanken besser sortieren konnte. Es gab eine Verbindung zwischen dem Beschatten und der Art, wie die Weisung des Hüters funktionierte;
sie konnte den Zusammenhang beinahe vor sich sehen.
Ellevanal hatte den Priester beschattet. War das die gleiche Art von Magie, die Weisungen an Reisende ergehen ließ? Sie schloss die Augen und dachte nach, versuchte, über eine erste instinktive Bestätigung dieser Idee hinauszudenken. Die Bindung zwischen dem Priester und Ellevanal war kurzfristig gewesen, aber die Weisungen waren dauerhaft.
»Ich kann die Weisungen mithilfe von Magie sehen «, murmelte sie laut, um sich darüber noch klarer zu werden. »Aber ich kann nicht erkennen, ob jemand beschattet wird. Ich frage mich, ob Lehr oder Jes hätten feststellen können, dass sich der Waldkönig in Karadocs Haut befand? Oder ist es das Böse an der Präsenz des Pirschgängers, das sie spüren?« Das fühlte sich richtig an.
»Du glaubst, es gibt eine Verbindung zwischen den Weisungen und dem Beschatten?«, fragte Hennea.
Seraph nickte und schlug die Augen wieder auf. »Ich denke, es handelt sich um ähnliche Magie. Nicht dieselbe und auch keine ergänzende, aber die Techniken gehören eindeutig der gleichen Familie von Magie an. Wenn wir beide uns die Edelsteine mit den Weisungen noch einmal ansehen, sollten wir uns vielleicht zuvor intensiver informieren, wie die Zauberer von Colossae andere beschatteten. In den meisten Bibliotheken der Mermori gibt es Bücher darüber . Isolda hatte vier oder fünf, die ich durchgeblättert habe.«
Hennea starrte hinauf in den Sommerhimmel. »Ja, du hast recht.«
Vielleicht hatte Hennea das nur gesagt, weil sie zu dem gleichen Schluss gekommen war. Aber für Seraph hörte es sich verdächtig danach an, als hätte sie es die ganze Zeit schon gewusst.
»Wie lange wusstest du es schon?«, fauchte sie.
Seraph, Hennea und Brewydd hatten Tage mit dem Versuch verbracht, mehr darüber herauszufinden, wie der Pfad die Weisungen an die Edelsteine binden konnte. In den Bibliotheken war nichts über die Weisungen zu finden; sie waren erst geschaffen worden, nachdem die Zauberer Colossae verlassen hatten und ihre Studien nicht mehr aufzeichneten. Wenn Hennea gewusst hatte, dass es eine Verbindung zwischen dem Beschatten, wie es die Zauberer in Colossae praktiziert hatten, und den Weisungen gab, hätte sie das Seraph und Brewydd sagen sollen.
Hennea sah Seraph an. »Eine Weile. Aber ich konnte nichts Genaueres herausfinden. Die Zauberer schrieben viel darüber, wie sie sich in den Geist einer anderen Person versetzen und sich davor schützen konnten, dass ein anderer Zauberer ihnen dergleichen antat. Aber nichts, was uns mit den Steinen hätte weiterhelfen können.«
»Du hast es Brewydd oder mir gegenüber nicht erwähnt.«
»Nein.«
»Warum nicht?«
»Es war nicht hilfreich.«
»Das dachtest du jedenfalls«, sagte Seraph eisig.
Es gab eine Verbindung; sie konnte es spüren, aber das war es nicht, was sie störte. Tier neckte sie gern wegen der Neigung der Raben zur Geheimniskrämerei, aber Seraph hatte zuvor noch nie erlebt, dass jemand diesen Aspekt ihrer Weisung gegen sie gewandt hätte. Es gefiel ihr nicht. Sie war eine Rederni geworden - Leuten, die keine Geheimnisse bewahren konnten, durfte man nicht trauen.
Tiers Verdacht über Hennea wirbelte in Seraphs Kopf herum, aber sie konnte kein Muster darin erkennen. »Tier denkt, dass du älter bist, als du aussiehst.«
»Wie kommt er denn darauf?« Nun war es an Hennea, mit eisiger Stimme zu sprechen.
Das war
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