Rabenzauber
peinlich.«
Seraph dachte darüber nach. »Nun …« Sie blickte nach unten auf das Dach unter ihnen. »Wenn Willon mir sagen würde, ich könne ihn jederzeit berühren, glaubst du, ich liefe verlegen davon?«
Jes hatte die Augen weit aufgerissen und offenbar Schwierigkeiten, sich vorzustellen, dass Willon so etwas zu seiner Mutter sagen könnte. Dann schüttelte er den Kopf. »Sie würden Willons Einzelteile noch jahrelang irgendwo finden.«
Sie grinste. »Denkst du, was ich denke, Jes? Ich denke, wenn sie dich nicht berühren wollte, könnte man jetzt vielleicht auch überall Einzelteile von Jes auflesen. Ich denke, sie will dich berühren, und deshalb war es ihr so peinlich.«
Jes seufzte tief. »Vielleicht hast du recht«, sagte er. »Aber du kannst nicht immer besonders gut erkennen, warum Leute dies oder jenes tun. Da bist du genau wie ich.«
»Mag sein«, gab sie zu. Sie fragte sich, ob es ihm schaden würde, wenn sie mehr sagte. »Aber dein Vater kennt sich mit Leuten aus. Willst du, dass ich dir erzähle, was er mir noch über Hennea gesagt hat?«
Er sah sie mit traurigen dunklen Augen an.
»Er fragte mich, warum sie immer noch bei uns ist. Sie ist mit uns nach Taela gekommen, um gegen den Pfad zu kämpfen,
aber nach der Zerstörung des Pfads ist sie immer noch bei uns geblieben.«
»Wegen mir?«, flüsterte er.
»Jes, ich möchte, dass du mich anhörst, bis ich fertig bin«, sagte Seraph. »Bitte versprich mir das.«
»Versprochen.«
»Dein Vater sagte, sie sei nicht wegen dir geblieben.«
Jes kam auf die Beine und trat einen Schritt zurück, und Seraph fuhr schnell fort. »Er ging davon aus, dass sie sobald wie möglich gegangen wäre, und zwar deinetwegen, und ich erwiderte, sie sei geblieben, weil sie mir mit den Weisungssteinen helfen wollte - und wegen des Schattens.«
»Sie wäre wegen mir gegangen.«
»Weil sie sich um dich Sorgen macht. Würdest du bitte genau zuhören?« Sie achtete darauf, weiter mit leiser Stimme zu sprechen.
»Also gut«, murmelte er, aber ohne sie anzusehen - die Leute nicht anzusehen, mit denen er sprach, gehörte zu Jes’ Gewohnheiten. Aber nun schaute er noch demonstrativer nicht hin als sonst.
»Du weißt, dass es nur wenige Hüter gibt, die so lange leben wie du«, sagte sie. »Von denen, die das Heranwachsen überleben, sind die meisten Frauen. Wie du selbst schon sagtest, die Weisung des Adlers kommt nur zu Empathen, aus welchem Grund auch immer. Und dennoch neigt der Adler von allen Weisungen am meisten dazu, gewalttätig zu werden - etwas, womit kein Empath so einfach leben kann.«
»Dumm«, stellte Jes mit verständlichem Nachdruck fest.
Seraph zuckte die Achseln. »Die Zauberer von Colossae haben den Pirschgänger geschaffen, Jes. Ich kann mir kaum etwas Dümmeres vorstellen als das. Vielleicht gibt es ja einen guten Grund, wieso die Weisung des Hüters so schwer auszuhalten ist, aber ich sehe keinen.«
Er schwieg.
»Die Reisenden haben viele Dinge versucht, um den Adlern zu helfen«, fuhr sie fort. »Wenn ein Adler zur Welt kommt, wird das Kind einem anderen Clan gegeben. Sie glauben, Fremde haben keine so enge gefühlsmäßige Bindung an ein Kind, das kein Blutsverwandter ist.«
»Es tut mir leid, dass du keinen Clan hattest, dem du mich geben konntest«, sagte Jes hitzig.
» Jesaphi, das reicht jetzt!«, fauchte Seraph. Selbstmitleid konnte sie nicht ausstehen. Sie holte tief Luft. »In den frühen Tagen, nachdem ich deinen Vater geheiratet hatte, glaubte ich, die falsche Entscheidung getroffen zu haben. Ich war Rabe, und ich hatte meiner Pflicht aus Feigheit den Rücken gekehrt.«
Jes drehte sich zu ihr um. Ihre Worte hatten ihn offenbar überrascht.
»Und ich war tatsächlich feige, Jes. Ich hatte Verantwortungen, und statt sie zu erfüllen, habe ich mich im Schatten deines Vaters versteckt, wo ich sicher sein würde vor den Folgen weiteren Versagens. Ich hatte meinen Clan nicht retten können. Ich hatte es nicht einmal geschafft, meinen Bruder zu retten. Ich hatte Angst, wieder zu versagen.«
»Du hast es versucht. Versuchen ist gut genug«, wollte Jes sie trösten.
Seraph schüttelte den Kopf. »Nicht, wenn Menschen sterben. Wenn Menschen sterben, fühlt sich Versuchen nicht gut genug an.«
Er dachte darüber nach. »Wenn Papa in Taela gestorben wäre, würde ich auch nicht glauben, dass versuchen gut genug ist.«
Sie nickte. »Aber als ich dich in meinen Armen hielt und erkannte, was mir da geschenkt worden war, wusste ich, dass
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